Skip to content. Skip to navigation

Liederlexikon

Personal tools
You are here: Home Lieder Es waren zwei Königskinder
Document Actions

Es waren zwei Königskinder

(Ach Mutter, liebste Mutter)

"Es waren zwei Königskinder" ist eines der bekanntesten traditionellen Lieder aus dem deutschsprachigen Raum und gilt gemeinhin als Musterbeispiel einer "Volksballade". Die ältesten Quellen des Liedes stammen aus dem 16. Jahrhundert, eine breitere Rezeption ist in Deutschland jedoch erst im Zuge des Aufkommens der "Volkslied"-Idee erkennbar: Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurde die Ballade in entsprechenden Sammlungen wieder publiziert, häufig auch mit dem Liedanfang "Ach Mutter, liebste Mutter". Ihre außerordentlich große Verbreitung im 19. und 20. Jahrhundert ist anhand unzähliger Lieddrucke und einer Fülle von Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung ablesbar. Der besondere Stellenwert der "Königskinder"-Ballade im Kontext der deutschen "Volkslied"-Rezeption spiegelt sich – zumal im 20. Jahrhundert – nicht nur in ihrer starken Präsenz in Gebrauchsliederbüchern und auf Tonträgern, sondern auch in zahlreichen künstlerischen Adaptionen, literarischen und musikalischen Verarbeitungen, Parodien und Kontrafakturen sowie in der sprichwörtlichen Verwendung der ersten Strophe als Metapher in politischen Kontexten.

I. Die Ursprünge der Königskinder-Ballade liegen im Dunkeln. Die früheste bekannte Quelle dafür ist ein Nürnberger Flugschriftendruck aus den Jahren um 1580 mit dem Incipit "Zwischen zweyen burgen / da ist ein tieffer See" (Edition A). Diese Textfassung zeigt deutliche Spuren mündlicher Überlieferung, so dass davon auszugehen ist, dass das Lied bereits vor jenem Druck einige Zeit in Umlauf war. Ob die Ballade jedoch bereits im Spätmittelalter entstanden ist – wie seitens der älteren "Volkslied"-Forschung behauptet wurde – ist zweifelhaft: es liegen keine überzeugenden Indizien vor, die diese Vermutung stützen. Auch im niederländischen Sprachraum ist die Verbreitung dieses Balladenstoffes erstmals im 16. Jahrhundert nachweisbar.

II. In der ältesten deutschsprachigen Textfassung der Ballade ist noch nicht von "Königskindern" die Rede, auch die prägnante Wendung "das Wasser war viel zu tief" fehlte. Vielmehr erzählte die Ballade im 16. Jahrhundert von einem "edlen Ritter" und einer "Junckfraw fein", die auf ihren Burgen wohnen, und zwischen ihnen liegt "ein tieffer See". Die tragenden Handlungselemente der Ballade waren jedoch schon vollständig vorhanden: die beiden schreiben sich Briefe, er will zu ihr hinüber schwimmen, sie stellt ihm dafür ein Licht auf, welches die Richtung weisen soll, aber von einem "wunderbösen Weib" gelöscht wird, so dass der "edle Herr" ertrinkt. Es folgt ein Dialog zwischen der jungen Frau und ihren Eltern ("Ach Mutter, liebste Mutter"), in dem die Tochter vorgibt aufgrund von Kopfschmerzen am See spazieren gehen zu wollen. Sie beauftragt einen Fischer, ihr den ertrunkenen Ritter zu bringen, und geht vor Verzweiflung schließlich selbst ins Wasser. Diese tragische Liebesgeschichte basiert auf einem sehr alten Stoff: der antiken Sage von Hero und Leander (der sogenannten "Schwimmersage"), die durch ihre literarischen Gestaltungen durch Ovid und Musaios internationale Verbreitung erfuhr.

III. Aus dem 16. Jahrhundert sind nur wenige Quellen des Liedes im deutschen Sprachraum überliefert. Sie korrespondieren weitgehend der Textfassung des Nürnberger Druckes (Edition A). Über die musikalische Seite der Ballade in jener Zeit ist indes gar nichts bekannt. Die Volksliedforschung des frühen 20. Jahrhunderts hat in dieser Hinsicht eine Verbindung der "Königskinder"-Ballade mit dem "Elslein"-Lied ("Ach Elslein, liebes Elselein") angenommen (DVM–Balladen 1935), spätere Kommentatoren haben dies – als vermeintlich gesicherte Tatsache – bis in die Gegenwart fortgeschrieben. Die überlieferten Quellen bestätigen diese These jedoch nicht.

IV. Parallel zum deutschsprachigen Gebiet fand der Balladenstoff im 16. Jahrhundert auch in anderen Teilen Europas, zumal im skandinavischen und niederländisch-flämischen Raum, Verbreitung. Quellen aus den Niederlanden zeigen, dass die Ballade dort um 1525 ("Tusschen se berch hoghe / Daer leit een water vijt") mit der Melodie des religiösen Liedes "Ic sie die morghe sterre" einherging. Rund hundert Jahre später wurde dafür wiederum eine andere Liedweise genannt ("Wilt t'samen nu") und auch der Liedanfang "Het waeren twee Koninghs kinderen / Zy hadden malkander soo lief" findet sich erstmals in jenem niederländischen Lieddruck aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Edition B).

V. In Deutschland lässt sich die "Königskinder"-Ballade dagegen im 17. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts überhaupt nicht nachweisen. Spuren ihrer Existenz finden sich erst wieder ab den 1760er Jahren. Dabei zeigt ein handschriftliches Liederbuch aus Pommern (s. Anmerkung zu Edition C), dass die Ballade damals oft ohne die Erzählelemente der "Schwimmersage" kursierte. Der Liedtext setzte vielmehr direkt mit dem Generationenkonflikt ein ("Ach mutter Hertzen mutter") und endete mit dem Selbstmord des Mädchens. In dieser Form wurde die Ballade 1804 in Friedrich Heinrich Bothes "Frühlings-Almanach" erstmals wieder gedruckt. Johann G. G. Büsching und Friedrich H. von der Hagen übernahmen diese Version kurz darauf in ihre wichtige "Sammlung Deutscher Volkslieder" (Berlin 1807) und besorgten sich dafür von Bothe auch die dazugehörende Melodie (Edition C). Diese reduzierte Erzählform bildete auch in der Folgezeit eine der wesentlichen Erscheinungsformen der Ballade im deutschsprachigen Raum, die sich vor allem in der mündlichen Überlieferung bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hielt.

VI. Mit dem Textanfang "Es waren zwei Königskinder" bürgert sich die Ballade erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Deutschland ein. Erstmals erschien sie in dieser Form 1833 im "Liederbuch für deutsche Künstler" (Edition D). Dass sich in den folgenden Jahrzehnten dieses Textmodell zunehmend durchsetzte – vor allem in Gebrauchsliederbüchern – hat vielschichtige Gründe. Zum einen hatten bereits Clemens Brentano und Achim von Arnim das Lied im zweiten Band von "Des Knaben Wunderhorn" (Heidelberg 1808) mit dem Incipit "Es waren zwei Edelkönigs-Kinder" in Umlauf gebracht. Hinzu kam 1821 die Übersetzung der niederländischen Ballade ins Deutsche durch Hoffmann von Fallersleben (s. Anmerkung zu Edition B); darin erschien die Eingangsstrophe erstmals in der Form, die seit 1833 in Liederbüchern verbreitet wurde und bis heute bekannt ist. Mit der damaligen Wiederentdeckung der historischen niederländischen Liedquellen und ihrer Edition als alte "Volkslieder" (Hoffmann von Fallersleben 1833) wurden diese in der Folge häufig als Repräsentanten der fehlenden deutschen Überlieferung angesehen. Zumal auch die Verbreitung der Ballade im niederdeutschen Sprachraum durch die Liedtradierung des niederländisch-flämischen Bereichs geprägt war: "Et wassen twee Künigeskinner, de hadden eenander so leef" hob die Ballade beispielsweise in einer Aufzeichnung an, die Annette von Droste-Hülshoff 1842 aus Westfalen mitteilte (Edition E). Die Etablierung der "Königskinder"-Ballade im deutschen Sprachraum war ein Prozess, der von Beginn an durch Bildungseliten geprägt wurde und der sich vor allem mittels (gedruckter) Gebrauchsliederbücher vollzog. Sein Erfolg ist auch im Kontext einer neuen Welle der literarischen "Hero und Leander"-Rezeption zu sehen, für die etwa Friedrich Schillers gleichnamige Ballade (1801) und Franz Grillparzers Trauerspiel "Des Meeres und der Liebe Wellen" (1831) kennzeichnend sind. Zudem war die Ballade von den toten Königskindern in einer Zeit, die im Zuge der Entdeckung der romantischen Liebe auch den Selbstmord kultivierte (mit Helden wie Werther und einer Protagonistin wie Karoline von Günderrode), gerade für das gebildete Bürgertum von besonderer Attraktivität.

VII. Hinsichtlich seiner musikalischen Seite hatte die Ballade im 19. Jahrhundert ebenfalls noch keine einheitliche Gestalt. Die älteste Aufzeichnung einer Melodie stammt von Friedrich H. Bothe und wurde 1807 erstmals veröffentlicht (Edition C). Der gleiche Melodietyp liegt auch der niederdeutschen "Königkinder"-Überlieferung zugrunde (Edition E). Es wird vermutet, dass diese Melodie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden ist und möglicherweise eigens zu der Ballade komponiert wurde (DVM–Balladen 1935). Mit ihrem markanten Sextsprung zu Beginn, der im Folgenden über die Septime zur Oktave führt, wurde sie zur einflussreichsten Melodie der "Königskinder"-Ballade. Eine Variante davon – mit eigenständigem Vordersatz – erschien erstmals 1833 im "Liederbuch für deutsche Künstler" (Edition D) und fand ebenfalls Verbreitung. Dieses Liederbuch dokumentierte zugleich noch eine weitere populäre Königskinder-Weise, die dort dem Lied "Die Mühle, die dreht ihre Flügel" unterlegt wurde (s. Anmerkung zu Edition D). Diese Moll-Melodie erschien 1834 auch im Kölner "Pfennig-Magazin für Gesang und Gitarre" und wurde im 19. Jahrhundert noch in verschiedene andere Liederbücher und "Volkslied"-Sammlungen aufgenommen, darunter so einflussreiche Publikationen wie Finks "Musikalischer Hausschatz der Deutschen" (ab 1843) oder das Lahrer Kommersbuch (25. Aufl. 1882), so dass auch sie noch Anfang des 20. Jahrhunderts in der mündlichen Liedüberlieferung zu finden war (Edition F). Darüber hinaus kursierten diverse andere Melodien zu dieser Ballade (s. DVM–Balladen 1935), insgesamt wurde die musikalische Rezeption der "Königskinder" jedoch von dem eingangs erwähnten Melodietyp (Edition C und Edition E) dominiert. Bereits 1856 notierte der Liedforscher Ludwig Erk dazu: "durch ganz Deutschland verbreitet" (Deutscher Liederhort) und in der Folgezeit wurde vor allem diese Melodie durch zahllose Gebrauchs- und Schulliederbücher popularisiert.

VIII. Die außerordentlich breite Rezeption der "Königskinder"-Ballade wird im deutschsprachigen Raum ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch eine kaum noch überschaubare Fülle an Belegen sichtbar, aus mündlicher Überlieferung und handschriftlichen Quellen ebenso wie in gedruckten Liederbüchern und Musikalien. Charakteristisch ist dabei für die mündliche Tradierung der Ballade – neben dem starken und bereits erwähnten Anteil an Aufzeichnungen in plattdeutscher Mundart (s. Edition E) sowie der Pluralität der gebrauchten Melodien (s. Abs. VII.) – ein breites Spektrum an Textvarianten und –versionen, die teilweise wiederum eigene Überlieferungsstränge bilden – z. B. wird in einer Balladenversion die Distanz zwischen den Liebenden mit einem Zerwürfnis zwischen ihren Eltern begründet ("Denn zwischen den Eltern der beiden, war ewiger Zank und Streit", siehe Anmerkung zu Abb. 1.d). Zudem gibt es etliche Überschneidungen und Vermischungen mit anderen tradierten Balladen, wie dem "Abendgang" (DVM–Balladen Nr. 19) sowie – insbesondere – mit der Ballade von der "schönen Jüdin", die einen christlichen "Schreiber" liebt, doch von diesem aufgefordert wird, zu konvertieren (DVM–Balladen Nr. 158). In dieser Ballade hatte das märchenhafte "Königskinder"-Motiv der Liebenden, die nicht zusammenkommen können, im 19. Jahrhundert seinen realen sozialen Bezug gefunden. Auch andere Balladen und Popularlieder (wie "Es waren zwei Waisenkinder" oder "Es waren zwei Nachbarskinder") zeigen unverkennbar den Einfluss des "Königskinder"-Stoffs. Bei dessen Verbreitung spielten im Verlauf des 19. Jahrhunderts gedruckte Liedfassungen in Gebrauchsliederbüchern, Musikalien und Lyrik-Anthologien eine zunehmend einflussreiche Rolle. Unter den Notendrucken stechen vor allem die vielen Chorbearbeitungen des Liedes ins Auge, darunter von prominenten Komponisten wie Johannes Brahms (1860, WoO 36/6) und Max Reger (1899, WoO VI/11). Daneben entwickelte sich eine breite künstlerische Rezeption der "Königskinder"-Ballade, im literarischen Bereich ebenso wie in Musiktheater und bildender Kunst: Schon die "Wunderhorn"-Autoren Achim von Arnim und Clemens Brentano verwendeten das Motiv verschiedentlich in eigenen Werken, Theodor Storm legte das Lied seiner Novelle "Es waren zwei Königskinder" (1884) zugrunde, der dänische Komponist August Enna baute es als Arie in seine Oper "Die Hexe" op. 5 (1892) ein und auch Franz Lehar verwendete es in seiner Operette "Die lustige Witwe" (1905). In Engelbert Humperdincks Märchen-Oper "Königskinder" (1897) spielte die Ballade indes keine Rolle; freilich kennzeichnet auch diese Titelgebung den besonderen Nimbus, der mit dem Lied längst einherging. Dieser spiegelt sich auch in verschiedenen Liedillustrationen (Abb. 1) und Liedpostkarten (Abb. 2), die dem Motiv der "Königskinder"-Ballade gewidmet waren.

IX. Die Tradierung der "Königskinder"-Ballade im 20. Jahrhundert führte einerseits die Rezeptionslinien des 19. Jahrhunderts fort und kennzeichnet sich andererseits durch eine zunehmende Historisierung des Liedes, seine Kanonisierung als altüberlieferte "Volksballade" sowie der Tendenz zur Standardisierung der Liedgestalt. Vor allem im Kreis der Jugendbewegung griffen auflagenstarke Liederbücher wie "Der Zupfgeigenhansl" (ab 1909) oder Walter Werckmeisters "Deutsches Lautenlied" (ab 1914) auf den plattdeutschen Liedtext "Et wassen twe Künigeskinner" (s. Edition E) zurück, um auf diese Weise dem Lied eine Aura besonderer historischer Tiefe und Authentizität als "altes Volkslied" zu verleihen (in Werckmeisters "Lautenlied" erschien die Ballade etwa im entsprechenden Kapitel "Aus verschollenen Zeiten"). In den Jahren der NS-Herrschaft ist der historische Schwellenbereich der Ballade sogar bis in vermeintliche Urgründe germanischer Glaubensvorstellungen verschoben worden: Durch Schulliederbücher wurde nunmehr das Gerücht verbreitet, dass es sich beim Widersacher der Königskinder ursprünglich um eine "Norne" und somit um eine germanische Schicksalsgöttin gehandelt hätte – und erst der "Volksmund" habe die "Norne" später zu einer "Nonne" umgesungen. Tatsächlich gibt es in der Überlieferungsgeschichte der Ballade keinerlei Hinweis darauf, dass eine "Norne" hier jemals eine Rolle gespielt hat – vielmehr ist in den ältesten Belegen aus dem 16. Jahrhundert von einem "wunderbösen Weib" die Rede (s. Edition A, Str. 7). Dennoch begleitet die Legende von der vermeintlich ursprünglichen "Norne" die "Königskinder" bis in die Gegenwart (John 2013). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzieht sich ebenfalls die Kanonisierung des Liedes als altüberlieferte "Volksballade": zum einen im Bereich volkskundlicher Editionen als Balladentyp von internationaler Verbreitung (paradigmatisch: DVM–Balladen 1935), zum anderen in zahlreichen (Lyrik- und) Balladenanthologien als Musterbeispiel dieser Gattung. Einhergehend mit der Kanonisierung der Ballade entwickelte sich eine tendenzielle Standardisierung ihrer Gestalt. Das zeigt sich sowohl in der zunehmend selektiven Sicht auf die Quellen aus mündlicher Überlieferung, wie auch im Bereich der Gebrauchsliederbücher. Nur wenige einflussreiche Liederbücher, wie "Bruder Singer" (Kassel 1951 ff.) oder das "Altenberger Singebuch" (Freiburg 1948 ff.), druckten zwei unterschiedliche Fassungen der Ballade ab, in den meisten Liederbüchern machte sich hinsichtlich Text und Melodie eine steigende Vereinheitlichung breit: Der Liedanfang lautet nun ausschließlich "Es waren zwei Königskinder", die frühere "Ach Mutter"-Fassung spielt keine Rolle mehr; die Pluralität der Liedmelodien schwindet und der Liedtext wird meist auf einen Umfang von fünf bis zehn Strophen verkürzt (Edition G). Dabei fiel häufig der gesamte Textteil mit dem Gespräch zwischen Tochter und Eltern weg. Somit veränderte sich die inhaltliche Seite der Ballade grundlegend: war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch der Dialog von Mutter und Tochter das inhaltliche Zentrum der Ballade, so reduziert sich das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tendenziell auf das Motiv der Schwimmer-Sage, welches wiederum in der Balladen-Überlieferung des 19. Jahrhunderts vielfach gar nicht vorgekommen ist (siehe Abs. V.).

X. Der besondere Stellenwert der "Königskinder"-Ballade als traditionelles Lied im 20. Jahrhundert spiegelt sich auch in zahlreichen Parodien und Umdichtungen, im literarischen Bereich (Edition H) ebenso wie in populären Genres. Die Bandbreite reicht hier von parodistischen Liedern wie "Et woren zwei kölsche Kinder" (Edition I) über gängige Verfremdungen des Liedanfangs (Edition J) bis hin zu zahlreichen Karikaturen mit diesem Motto (Abb. 3). Die erste Liedstrophe entwickelte sich im 20. Jahrhundert generell zu einer Art geflügeltem Wort, das gerade im Bereich der Kommentierung politischer Ereignisse häufig zitiert wurde. Seit dem Ersten Weltkrieg finden sich vielfach entsprechende Karikaturen (s. Anmerkung zu Abb. 3) und Gedichte (Mieder 2012); Frank Beyers Film "Königskinder" (1962) thematisierte damit Anpassung und Widerstand in der Zeit des Faschismus; Karel Gotts Schlagerversion der "zwei Königskinder" (1971) zielte gegen den "Eisernen Vorhang" zu Zeiten des Kalten Krieges; Wolf Biermann zitierte die "Königskinder" als Metapher für das geteilte Deutschland in seinem Chanson "Mein Vaterland, mein Vaterland" (1962). Die Ballade selbst fand ab den 1960er Jahren indes immer weniger aktiven Gebrauch; sie war weitgehend ein Lied der älteren Generation, die es einst in der Schule gelernt hatten (Klusen 1975). Auf Tonträgern waren die "zwei Königskinder" damals meist in Chorversionen vertreten, was dem eher gestrigen Erscheinungsbild des Liedes korrespondierte. Einen frischen Ton brachte hier erst die deutsche Folkbewegung mit musikalisch originellen Aufnahmen durch die Gruppen "Singspiel" (1975) und "Moin" (1977 – auf Plattdeutsch), aber insgesamt wurde die Ballade im Rahmen des Folkrevivals eher selten gespielt. Auch hier bot sie eine Folie für politische Parodien, etwa in der Anti-AKW-Bewegung (Edition K) oder bei regimekritischen Liedermachern in der DDR: "Es waren zwei Königreiche, die haßten einander so tief" hieß es 1980 etwa ganz offen in Karl Winklers "Lied vom Soldaten" (Winkler 1985), während das Duo Sonnenschirm seine "zwei Köhlerkinder" als eine surrealistische Analyse realsozialistischer Realitäten formulierte (Edition L). Erst in jüngster Zeit ist das Lied von den Königskindern im Kontext neuerer "Volkslied"-Aneignungen von so unterschiedlichen Interpreten wie "Deitsch" (2005), Achim Reichel (2006), "Schöneweile" (2006) oder – musikalisch besonders reizvoll – Bobo (2007) wieder aufgegriffen worden. Und bis in die Gegenwart wird es noch vielfach als Musterbeispiel für ein "altüberliefertes Volkslied" angesehen, dessen Tradierung kontinuierlich vom 15. bis ins 20. Jahrhundert reiche – auch wenn dem realiter gar nicht so war.

ECKHARD JOHN
(Juni 2013)



Literatur
  • Eckhard John: Die "Norne" der "Königskinder". Zur Genese einer Liedlegende (2013). In: Historisch-kritisches Liederlexikon (Publ. in Vorber.)
  • Wolfgang Mieder: "Zersungene Lieder". Moderne Volksliedreminiszenzen in Literatur, Medien und Karikaturen. Wien 2012, S. 158–172 (Kap. XVII. "Es waren zwei Königskinder") [= erweiterte Fassung des entsprechenden Abschnittes in ders.: Deutsche Volkslieder. Texte, Variationen, Parodien. Stuttgart 1980, S. 14–33].
  • Ingeborg Springer-Strand: Tradition und Variation. Die Ballade von den Königskindern. In: Gedichte und Interpretationen. Band 1: Renaissance und Barock. Hrsg. Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 21–31.
  • Otto Holzapfel: "Die Königskinder" ("The Royal Children"). Traditional Folk Balladry on a German Broadside (ca. 1563). In: The Ballad as Narrative. Studies in the Ballad Tradition of England, Scotland, Germany and Denmark. Odense 1982, S. 125–135.
  • Ingeborg Weber-Kellermann: Die Volksballade von der schönen Jüdin im europäischen Zusammenhang mit dem Lied von den zwei Königskindern. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 58 (1962), S. 151–164. (gekürzter und überarb. Nachdruck in dies.: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Frankfurt a. M. 1974, S. 61–72.
  • Heinrich Dittmaier: Der Widersacher in der Königskinderballade. In: Mitteilungsblatt der Rheinischen Vereinigung für Volkskunde 8 (1949), S. 5–9.
  • Wilhelm Heiske: Königskinder und Elsleinstrophe. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 3 (1932), S. 35–53.
  • Hilde Kommerell: Das Volkslied "Es waren zwei Königskinder". Stuttgart 1931.
  • Walter Anderson: Das Lied von den zwei Königskindern in der estnischen Volksüberlieferung. Dorpat 1931 (Sonderabdruck aus den "Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft" Bd. 26).
  • Ernst Rosenmüller: Das Volkslied: Es waren zwei Königskinder. Ein Beitrag zur Geschichte des Volkslieds überhaupt. Dresden 1917.
  • Julius Sahr: Die Schwimmersage. III. Das Volkslied. In: Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung, 1907, Nr. 32 (10. August 1907), S. 142f.

Editionen und Referenzwerke
Weiterführende Literatur
  • Thomas Gärtner: Wer löscht das Feuer? Zur Rezeption der Hero-und-Leander-Sage in Mittelalter, Renaissance und Neuzeit. In: Orbis Litterarum 64 (2009), S. 263–282.
  • Jaromír Jech: Artikel "Hero und Leander". In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 6 (1990), Sp. 845–851.
  • Kalle Winkler: Made in DDR. Liedermacher: unerwünscht. Frankfurt a. M. 1985, S. 62–65 (zu Winklers "Lied vom Soldaten").
  • Ernst Klusen: Zur Situation des Singens in der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1975, Band II. Die Lieder, S. 86f.
  • Theodor Storm: "Es waren zwei Königskinder" (1884). In: ders.: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hrsg. Karl Ernst Laage, Dieter Lohmeier. Band 3. Frankfurt am Main: 1988, S. 294–330.
  • August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Lieder und Romanzen. Köln 1821, S. 59–61 (Nr. 36).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: außerordentlich viele Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: überaus häufig in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: selten auf Liedpostkarten, öfters Liedillustrationen in Liederbüchern
  • Tondokumente: sehr viele Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Eckhard John: Es waren zwei Königskinder (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/es_waren_zwei_koenigskinder/>.


© Deutsches Volksliedarchiv


 
last modified 31.12.2013 04:35
 

nach oben | Impressum