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Leute höret die Geschichte (Robert Blum)

(Des Morgens in der vierten Stunde)

Das Robert Blum-Lied "Leute höret die Geschichte" (oder "Des Morgens in der vierten Stunde") ist ein politisches Ereignislied, das die Hinrichtung des demokratischen Abgeordneten am 9. November 1848 beschreibt. Es ist eines von zahlreichen Gedichten und Liedern, die seinerzeit zum Andenken Robert Blums entstanden sind. Wegen seiner Unterstützung des Wiener Oktoberaufstandes war Blum trotz seiner Immunität als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung standrechtlich erschossen worden. Der Verfasser von "Leute höret die Geschichte" ist unbekannt, auch über den Zeitpunkt der Entstehung kann nur spekuliert werden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war diese primär mündlich tradierte Ballade noch in vielen deutschsprachigen Regionen bekannt. Bei der Wiederbelebung von Liedern der 1848er Revolution in der BRD und DDR ab den 1960er Jahren spielte sie jedoch keine nennenswerte Rolle mehr.

I. Der Autor und die Entstehungszeit des Liedes "Leute höret die Geschichte" oder "Des Morgens in der vierten Stunde" sind nicht bekannt. Thema und Form des Liedes legen die Vermutung nahe, dass es kurze Zeit nach der Hinrichtung Blums, also in den Jahren um 1849, als Bänkellied entstanden sein könnte. Doch es gibt aus dem gesamten 19. Jahrhundert bislang keine einzige nachweisbare Quelle für seine Existenz. Zugleich fällt auf, dass inhaltliche Aussagen des überlieferten Liedtextes deutlich in zeitlicher Distanz zu den realen historischen Ereignissen stehen. Sicher aber ist, dass dieses Lied spätestens seit den Jahren um 1900 mündlich tradiert wurde und in verschiedenen Regionen kursierte. Die früheste Aufzeichnung stammt aus dem Jahr 1907 (Edition B).

II. Das Lied erzählt von den letzten Stunden des demokratischen Abgeordneten Robert Blum, der am 9. November 1848 in der Nähe von Wien hingerichtet wurde. Die Textüberlieferung ist infolge der mündlichen Tradierung durch eine große Variantenvielfalt gekennzeichnet. Dennoch lässt sich in der Erzählstruktur folgendes Grundmodell mit sechs Strophen erkennen (Edition A): Die erste Strophe macht im Duktus eines Bänkelsängers auf das traurige Schicksal Robert Blums aufmerksam, wobei die Handlung – entgegen den historischen Gegebenheiten – zumeist nach Berlin verlegt wird. Die zweite Strophe ("Des Morgens um die dritte Stunde") beschreibt, dass der Henkersknecht ihm das Todesurteil ins Ohr flüstert. Die dritte ("Des Morgens um die sechste Stunde") berichtet, dass Blum dennoch stolzen Schrittes durch das sich öffnende "Brandenburger Tor" schreitet. Die vierte und fünfte Strophe nehmen Bezug auf den Abschiedsbrief Blums an seine Frau und die letzte Strophe beschreibt die tödlichen Schüsse.

III. Parallel dazu haben sich verschiedene andere Textversionen entwickelt, die diese Grundstruktur variieren. Eine simple, aber augenfällige Abweichung besteht im Strophentausch von dritter und fünfter Strophe (Edition B). Dadurch wird der unaufhaltsame Zeitablauf der Hinrichtung durch den Einschub von Blums Brief an seine Frau etwas verzögert, so dass der prägnante Vers "Des Morgens um die sechste Stunde / öffnet sich das Brandenburger Tor" nun erst danach folgt und somit dieses Tor mit der Hinrichtungsstätte in Verbindung gebracht wird. Eine andere Variante enthält eine Zusatzstrophe ("Er stritt nur für die Freiheit"), die Robert Blum gleich zu Beginn des Liedes als Streiter für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit charakterisiert und somit eine dezidiert politische Würdigung seiner Person ergänzt (Edition C). Bei Textversionen, die anstelle Berlins die Stadt Wien als den (historisch korrekten) Ort der Handlung nennen, fällt wiederum auf, dass gleichzeitig aber am Schauplatz "Brandenburger Tor" festgehalten wird. In den vorangehenden Incipitvarianten ist hier stets von einer "Mordgeschichte" (anstelle der sonstigen "Geschichte") die Rede (Edition D). Die meisten Unterschiede zum Grundmodell enthält eine fünfstrophige Version des Liedes, die in der Regel auf die bänkelsängerischen Eingangsverse verzichtet (Edition E). Der Anfangsvers "Des Morgens in der vierten Stunde" – sonst Beginn der zweiten Strophe – wird hier zum Liedincipit und direkt mit den Versen zum "Brandenburger Tor" (sonst dritte Strophe) verknüpft. Es folgt eine neue Strophe ("Robert Blum, er rasselt mit den Ketten") zur Urteilsverkündung. Diese Variante lässt sich regional am deutlichsten eingrenzen: Man findet sie in einem geographischen Raum, der von Nordrhein-Westfalen, Anhalt, Sachsen, Schlesien bis nach Vorpommern reicht. Im Unterschied zur Vielfalt der Textvarianten zeigt die (ebenfalls reichhaltige) Melodieüberlieferung eine weitgehend konstante Form.

IV. Die unbekannte Frühgeschichte des Liedes hat dazu geführt, dass in der wissenschaftlichen Literatur verschiedene Thesen zur Liedentstehung und -rezeption entwickelt wurden, insbesondere von Alfred Wirth (1928) und Wolfgang Steinitz (1961). Wirth hat 1928 im "Jahrbuch für Volksliedforschung" als erster auf dieses Lied aufmerksam gemacht und zur Sammlung weiterer Aufzeichnungen aufgerufen. Er vertrat die These, das Lied stamme ursprünglich aus dem Bänkelsängermilieu, habe "eine erhebliche Laufzeit" in der oralen Tradierung hinter sich und sei vermutlich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg "zu politischen Zwecken" wieder entdeckt und (an unbekanntem Ort) neu publiziert worden. Steinitz dagegen meinte, das Lied sei "in direkter mündlicher Tradition seit der 1848er Zeit" in der Arbeiterbewegung überliefert worden, die bänkelsängerischen Anteile wären lediglich sentimentale und entpolitisierte Fassungen aus späterer Zeit. Beide Thesen bleiben jedoch weitgehend spekulativ. Zweifellos spricht angesichts der verschiedensten Variantenbildungen und der breiten regionalen Streuung – vom Saarland bis in die Ukraine – vieles dafür, dass dieses Lied bereits längere Zeit in mündlicher Überlieferung kursierte, bevor es ab 1907 von der volkskundlichen Liedforschung aufgezeichnet wurde. Zugleich ist aber auch nicht zu übersehen, dass der überlieferte Liedtext inhaltlich den historischen Ereignissen nur vage entspricht und somit in deutlicher zeitlicher Distanz zu diesen entstanden sein dürfte. Insbesondere fällt auf, dass der Ort der Handlung nach Berlin verlagert wird. Dies macht deutlich, dass die genauen historischen Umstände der Hinrichtung Blums für die Liedträger sekundär waren: vielmehr ging die Erinnerung an die 1848er Revolution offenbar primär mit der Kenntnis einher, dass es das preußische Militär war, welches die revolutionäre Bewegung in Deutschland niederwarf – dazu schien die im Lied genannte Lokalisierung der Hinrichtung des Freiheitshelden Robert Blum in der preußischen Hauptstadt bestens zu passen (s. Anm. zu Edition D). Diese Überlegungen würden eine deutlich spätere Entstehung des Liedes nahelegen, vielleicht im Kontext der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Feiern des Revolutionsgedenkens. Aber auch dies bleibt Spekulation, so lange keine entsprechenden Belege vorhanden sind. Einstweilen liegen Entstehung und Verbreitungswege des Liedes im Dunkeln.

V. Greifbar wird die Geschichte des Liedes erst mit der nach 1900 in breitem Umfang einsetzenden Volksliedsammlung. Hierbei zeigt sich, dass diese Robert Blum-Ballade zwischen 1910 und 1940 eine erstaunlich weite regionale Verbreitung – von Deutschland und Österreich über Polen und Ungarn bis zur Ukraine – hatte und dies keineswegs nur in der Arbeiterschaft, sondern in verschiedenen sozialen und kulturellen Milieus. So heißt es etwa in einer Liedaufzeichnung aus dem Jahr 1927: "Gesungen in der Pfarrei Perl (Obermosel) … von alt und jung bei Zusammenkünften u. Wanderungen" (DVA: A 96953). Bemerkenswert ist zudem, dass die Vielzahl der verschiedenen Textvarianten mit einer relativ konstanten Melodieüberlieferung einhergeht und dass es von diesem Lied über lange Zeit fast nur Zeugnisse einer lebhaften mündlichen Überlieferung gibt. Der frühste bekannte Lieddruck erfolgte erst 1923 in einem Liederbuch der Arbeiterbewegung (Edition F). In der Folge wurde das Lied von Robert Blum in weitere sozialistische Liederbücher vor 1933 übernommen. Parallel dazu sind verschiedene Quellen aus mündlicher Überlieferung von volkskundlichen Liedforschern publiziert worden. Diese Entwicklung kam 1962 zu einem vorläufigen Abschluss mit Wolfgang Steinitz' umfangreicher Dokumentation des Liedes als "demokratisches Volkslied" (Steinitz 1962).

VI. Die Bekanntheit der Blum-Ballade in der Arbeiterschaft nutzte der österreichische Schriftsteller Jura Soyfer in seinem 1934–1937 entstandenen Romanfragment "So starb eine Partei" als literarisches Stilmittel: in einer zentralen Passage, in der ein Polizeihäftling bis zur Besinnungslosigkeit geprügelt wird, setzt Soyfer Zitate des Liedtextes als Metapher dafür ein, wie unter den brutalen Schlägen aus einem kleinbürgerlichen Sozialdemokraten (er heißt im Roman ebenfalls Robert Blum) – "die Händ am Rücken festgebunden" – eine "Symbolfigur ... des sozialistischen Humanismus" (Ernst Glaser) wird. Neben dem Liedtext ist auch die Melodie des Blum-Liedes neu aufgegriffen worden: beim "Edgar André-Marsch" ("Denkt stets daran marschierende Kolonnen"), einem Lied zum Gedenken an den 1936 in Hamburg hingerichteten Kommunisten Etkar André. Durch diese musikalische Ebene ist dem André-Lied auch eine zusätzliche politische Bedeutungsschicht eingebaut worden: die Verknüpfung des antifaschistischen Engagements des NS-Opfers mit dem Freiheitskampf des 1848er-Revolutionärs (Edition G). Insgesamt gesehen verlor das Blum-Lied jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend an Bedeutung. Die mündliche Tradierung kam weitgehend zum Erliegen und die Ballade geriet zunehmend in Vergessenheit. Daran änderten auch einzelne Veröffentlichungen in Liederbüchern oder auf Schallplatte in der DDR nichts. Dort wurde das Lied als "sozialistisches Erbe" der Arbeiterbewegung eher musealisiert, wobei sich die Textfassung nach der Vorlage der Liederbücher aus den 1920er Jahren (Edition F) richtete und somit eine Variante perpetuierte, die für das Erscheinungsbild des Liedes insgesamt nicht repräsentativ war. Auch seine Charakterisierung als "bekanntestes Arbeiterlied" aus dem Jahr 1848 (Lammel 1978) – obwohl kein einziger Hinweis vorliegt, dass es in jenem Jahr überhaupt eine Rolle spielte – war Teil einer sozialistischen Legendenbildung, die rezeptionsgeschichtlich jedoch ins Leere lief: Bei der Wiederbelebung von Liedern der 1848er Revolution im Umfeld der Liedermacher- und Folkbewegung ab den 1960er Jahren fand die Blum-Ballade keine Berücksichtigung – dort ist vielmehr das Blum-Lied "Was zieht dort zur Brigittenau " wieder aufgegriffen worden.

DAVID ROBB
ECKHARD JOHN
Quellenrecherche: Johanna Ziemann
(August 2011)



Literatur
  • Kyrill V. Čistov: Bemerkungen zum Aufsatz von Wolfgang Steinitz "Das Lied von Robert Blum". In: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde 11 (1965) [= Festgabe für Wolfgang Steinitz], S. 260–264.
  • Wolfgang Steinitz: Das Lied von Robert Blum. Viktor Schirmunski zum 70. Geburtstag gewidmet. In: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde 7 (1961), S. 9–40.
  • Paul Willert: Das Lied von Robert Blum. In: Musik in der Schule 4 (1953), H. 4, S. 159–163; sowie ders.: Nochmals: Das Lied von Robert Blum. Ebd. H. 5, S. 280f.
  • Karl Wehrhan: Zu dem Liede von Robert Blum. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 5 (1936), S. 189f.
  • Alfred Wirth: Das Lied von Robert Blum. Mit Beiträgen von E. Seemann. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 1 (1928), S. 170–179.
  • Alfred Wirth: Das Lied von Robert Blum. In: Dessauer Anzeiger, (Sommer) 1925 (nicht näher datierter Zeitungsausschnitt, DVA: Kaps. Vld.).

Editionen und Referenzwerke
Weiterführende Literatur
  • Claudia Klemm: Erinnert, umstritten, gefeiert. Die Revolution von 1848/49 in der deutschen Gedenkkultur. Göttingen 2007 (Formen der Erinnerung 30).
  • Rüdiger Hachtmann: Totenkulte und Ikonisierungen. Robert Blum und andere Revolutionsheroen in der Erinnerung. In: "Für Freiheit und Fortschritt gab ich alles hin." Robert Blum (1807–1848). Visionär, Demokrat. Revolutionär. Ausstellungskatalog. Hrsg. vom Bundesarchiv. Berlin 2006, S. 169–176.
  • Jura Soyfer: So starb eine Partei. Prosa. 2. Aufl. Wien 2003 (= Jura Soyfer Werkausgabe. Hrsg. Horst Janka. Band III); Liedzitate S. 186 und S. 260f.
  • Fritz Hermann: Jury Soyfer. Eine politische Einschätzung. In: Exil – Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse 5 (1985), Nr. 1, S. 5–21 (Zitat Ernst Glaser S. 17f.).
  • Inge Lammel: Kampfgefährte – unser Lied. Berlin 1978 (Zitat S. 159: Chronologisches Verzeichnis der bekanntesten Arbeiterlieder).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: etliche Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: selten in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: einzelne Liedaufzeichnungen, selten auf Tonträgern; s. Diskographie
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
David Robb, Eckhard John: Leute höret die Geschichte (Robert Blum) (2011). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/leute_hoeret_die_geschichte_Robert_Blum/>.


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last modified 16.10.2012 10:32
 

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