Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
"Ach wie flüchtig, ach wie nichtig" thematisiert die Unbeständigkeit der Welt und die Vergeblichkeit alles irdischen Mühens. Die dafür herangezogenen Bilder werden alternierend mit dem Vers "Ach wie flüchtig, ach wie nichtig" bzw. "Ach wie nichtig, ach wie flüchtig" eingeleitet. Das Lied von Michael Franck (1609–1667) verbreitete sich schnell und wurde im protestantischen Bereich vielfach parodiert und musikalisch bearbeitet. Seit dem 20. Jahrhundert wird es konfessionsübergreifend rezipiert und vor allem bei Trauerfeiern, Bestattungen und Gedenkgottesdiensten gesungen.
I. Michael Franck, zunächst Bäcker, dann Lehrer, Dichter und Musiker, veröffentlichte kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg einen Lieddruck, der unter anderem das Lied "Ach wie flüchtig, ach wie nichtig" (Edition A) enthält: "Die Eitelkeit / Falschheit und Unbeständigkeit der WELT und Flüchtigkeit der Jrrdischen Gütter / Hergegen Das rechte standhaffte GUT der Himmlischen Gemüther" (Coburg 1652). Der Titel verdeutlicht die Intention des Autors: Franck variiert nämlich die zentrale biblische Bezugsstelle der barocken vanitas-Dichtung: "Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel." (Koh 1,2; vgl. die vanitas-Dichtungen von Andreas Gryphius, besonders "Die Herrlichkeit der Erden / Muß Rauch und Aschen werden").
II. Franck hat seinen Text im vierstimmigen Satz vertont. Das Lied stieß sofort auf breite Resonanz: Schon auf der Rückseite des Titelblattes von 1652 findet sich der Vermerk, dass es zwar nicht mehr erhältlich, aber immer noch begehrt sei. Diese Bemerkung lässt nicht nur auf die rasche Verbreitung des Liedes, sondern auch auf einen früheren (separaten?) Druck schließen. Wenige Jahre später, 1657, berichtet der Autor darüber hinaus über Nachdrucke in verschiedenen evangelischen Städten.
III. Rezeptionsgeschichtlich entscheidend war die Aufnahme des Liedes in das musikalische Andachtsbuch "Praxis pietatis melica" von 1661 (Edition B) . Die dort abgedruckte Melodiefassung von Johann Crüger (1598–1662) ist die bis heute verbreitete, obgleich im 17. Jahrhundert noch andere Weisen zu dem Text komponiert wurden. So schuf Andreas Hammerschmidt (1611–1675) eine Vertonung, die auch handschriftlich weitertradiert wurde (Liederbuch der Catharina Amalia Fräulein zu Solms, begonnen 1665).
IV. Die Wirkmächtigkeit dieses Liedes zeigt sich auch in vier bekannt gewordenen geistlichen Parodien. An erster Stelle ist die Dichtung "Ach wie nichtig / Und untüchtig / Ist der Menschen Denken!" von Sigmund von Birken (1626–1681) anzuführen (Edition C) . Diese stellt der menschlichen Ohnmacht die göttliche Weisheit und Allmacht gegenüber. Eine weitere Parodie ("Ach wie nichtig und untüchtig / Sind wir schnöden Menschen") wurde von dem evangelischen Geistlichen Christoph Arnold (1627–1685) für den Bußtag Aschermittwoch geschrieben. Als eine Art geistliches Gegenlied zu Francks Dichtung entstand "Ach! wie wichtig, / ach! wie richtig ist der Christen Leben" (Edition D).
V. Im ausgehenden Barock wurde Francks Lied von Georg Philipp Telemann viermal (TWV 1:37; 1:38; 4:2; 4:6) und zudem von Johann Sebastian Bach (BWV 26) als Kantate bearbeitet. Johann Gottlieb Naumann (1741–1801) integrierte die letzte Liedstrophe in sein Vokalwerk "Zeit und Ewigkeit". Auch haben sich verschiedene Motetten und Orgelbearbeitungen aus dem Barock erhalten, dazu Liedpredigten bzw. -erklärungen.
VI. Im Zeitalter der Aufklärung wurden die drastischen Bilder des Liedtextes teilweise abgemildert (Edition E). Die weltverachtende Stimmung bei Franck formten die Bearbeiter zu einem Aufruf zur Tugend – und damit zur Weltbewährung – um. Im Zuge der Gesangbuchrestauration seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Lied in seiner ursprünglichen Form wiederentdeckt, allerdings verkürzt auf acht bzw. sieben Strophen (Edition F) .
VI. Die katholische Rezeption setzte erst mit der Sammlung "Kirchenlied" (Berlin 1938) ein. Außerhalb von Kirchengesangbüchern wurde das Lied selten gedruckt. Dennoch lebt es auch jenseits des christlichen Gottesdienstes fort: Aufführungen und Einspielungen von Choralbearbeitungen, insbesondere der Bach-Kantate, bewahren das Barocklied im kulturellen Gedächtnis. In einen neuen Kontext gestellt wird der Choral in Mauricio Kagels "Sankt-Bach-Passion" (1985), die sich mit Mitteln der Textcollage dem Barockkomponisten nähert und dessen "Passion" zugleich feiert und durchbricht.
MICHAEL FISCHER
(August 2005 / Juni 2007)
Literatur
- Helmut Kornemann, Martin Blindow: Ach wie flüchtig, ach wie nichtig. In: Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch. Liederkunde. Zweiter Teil. Göttingen 1990, S. 378–381.
Editionen und Referenzwerke
- Fischer/Tümpel 1908, Bd. 4, S. 221f. (Nr. 254).
- Zahn 1889, Bd. 1, S. 504f. (Nr. 1887a–1889).
- Fischer 1878, Bd. 1, S. 29f.
Weiterführende Literatur
- Alfred Dürr: Die Kantaten von Johann Sebastian Bach. Mit ihren Texten. Kassel, 6. Aufl. München 1995, S. 703–706 [zur Kantate "Ach wie flüchtig, ach wie nichtig" BWV 26].
- Ferdinand von Ingen: Vanitas und memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen 1966, bes. S. 65f.
Quellenübersicht
- Ungedruckte Quellen: keine Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
- Gedruckte Quellen: selten in Gebrauchsliederbüchern, sehr häufig in Kirchengesangbüchern
- Bild-Quellen: —
- Tondokumente: viele Tonträger (primär kunstmusikalische Bearbeitungen)
Zitiervorschlag
Michael Fischer: Ach wie flüchtig, ach wie nichtig (2007). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/ach_wie_fluechtig_ach_wie_nichtig/>.
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