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C. Aus Wolhynien sind gezogen
(Ukraine 1927)
Text: anonym
Die Verjagten. | ||
1. | Aus Wolhynien sind gezogen | |
Die Verjagten arm und reich. | ||
Keiner ging den Weg auf Rosen, | ||
Alle waren sie jetzt gleich. | ||
Sonntag früh am sechsten Juli, | ||
Grade in der Erntezeit, | ||
Musste[n] durch die Trübsalsschule | ||
Alle, arm und reiche Leut. | ||
2. | Angespannt und schwer beladen | |
Stund der Wagen vor der Tür. | ||
Manche Sachen, o wie schade, | ||
Bleiben, man hat nichts dafür! | ||
Vorwärts gings durch Sturm und Wetter | ||
Auf Befehl der Obrigkeit; | ||
Keiner findet keinen Retter, | ||
Der ihn aus der Not befreit. | ||
3. | So ging's vorwärts über Wälder, | |
Über Hügel, Berg und Tal, | ||
Auch durch Städte und durch Felder, | ||
Und durch Dörfer ohne Zahl. | ||
Auf dem Strom mit einem Dampfer | ||
Fuhren wir. In einem Kahn | ||
Fuhren wir auf manchen Orten, | ||
Und zuletzt auf Eisenbahn. | ||
4. | Auf den langen Trübsalswegen | |
Kam der Tod, hielt gleichen Schritt. | ||
Kleine Kinder, alte Leute, | ||
Junge Blüten nahm er mit. | ||
Es ist gar nicht zu beschreiben, | ||
Diese grosse Trübsalszeit! | ||
Jeden drückt das schwere Leiden, | ||
Ach, wann endet doch das Leid. | ||
5. | Endlich ist der Tag gekommen, | |
Wo wir in Sibirien hier | ||
Wurden freundlich aufgenommen, | ||
Fanden Wohnung und Quartier. | ||
Haben hier bei guten Leuten | ||
Obdach für die Wanderzeit. | ||
So sorgt Gott in schweren Zeiten, | ||
Ihm sei Dank in Ewigkeit! | ||
6. | Was vergangen und geschehen | |
Hat ein jeder schon gefühlt. | ||
Aber wie's uns noch wird gehen | ||
Ist vor allen jetzt verhüllt. | ||
Doch das eine sind wir sicher, | ||
Dass uns geht nach Gottes Rat: | ||
Es ist ja der rechte Richter, | ||
Der noch nie gefehlet hat. | ||
7. | Gott wird ja die Seinen schützen | |
In der schwersten Trübsalszeit. | ||
Sollten gleich die Berge stürzen | ||
Und uns drohn in Ewigkeit. | ||
Das hat Gott vor alten Zeiten | ||
Jedem Gläubigen getan, | ||
Und er will ja uns bereiten | ||
Ein gelobtes Kanaan. | ||
8. | Drum, getrost, in trüben Stunden, | |
Geht's auch gleich durch schweres Leid! | ||
Denn darinnen hat gefunden | ||
Mancher seine Seligkeit. | ||
Gott führt zwar auch seine Kinder | ||
Oft in schweres Herzeleid, | ||
Damit doch die frechen Sünder | ||
Dächten an die Ewigkeit. |
Aufzeichnung aus mündlicher Überlieferung in Kolonie Worms (Kreis Nikolajew / Ukraine), Abschrift aus der Volksliedsammlung des dortigen Lehrers im Sommer 1927 von Viktor Schirmunski.
DVA: DVL – M 13, Nr. 1
IRLI Handschr. Abt.: Fond 104–12–34, Veröffentlichung mit Genehmigung von IRLI RAN, Sankt-Petersburg.
Dort folgende Herkunftsangabe: "Sammlung von Lehrer Bletsch (Niederschrift des Sängers)"
Editorische Anmerkung:
Viktor Schirmunskis Angabe zur Herkunft dieser Aufzeichnung dokumentiert, dass die Textgrundlage eine eigenhändige Niederschrift der (anonymen) Gewährsperson war.
Im Vergleich zur ältesten bekannten Liedquelle (s. Edition A, die ebenfalls von Schirmunski dokumentiert wurde, enthält vorliegende Fassung eine achte Strophe, ansonsten sind der Liedtexte weitgehend deckungsgleich.
Ebenfalls aus der Ukraine stammt eine kürzere, teilweise fragmentarische Version des Liedes, die Schirmunski bereits im Sommer 1926 in Rybalsk (bei Jekaterinoslaw) aufgezeichnet und 1927 in seinem Aufsatz über "Das kolonistische Lied in Russland" veröffentlicht hatte. Diese Liedversion weist einige markante Unterschiede zur oben vorliegenden Edition auf:
- die einzelnen Strophen umfassen nicht acht, sondern jeweils nur vier Verse (wie beispielsweise auch in Edition B);
- der Liedtext hat insgesamt zehn Strophen (und entspricht somit in etwa den ersten fünf oben edierten Strophen), wobei die 10. Strophe nur sehr fragmentarisch vorlag (– der Text der oben edierten Strophen 6–8 fehlte gänzlich);
- daneben enthält der Text verschiedene Abweichungen in Details, u. a.: "Sonntag früh am fünften Juli" (statt "sechsten Juli", vgl. oben Str. 1), "Keiner hat jetzt einen Vater" (statt "Keiner findet einen Retter", Str. 2) oder "Fuhren wir in einer Nacht, / Auf verschiedenen Podwoden" (statt "Fuhren wir. In einem Kahn / Fuhren wir auf manchen Orten", Str. 3);
siehe dazu im Einzelnen Viktor Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 37/38 (1927/28), S. 202; die (dort nicht genannte) Quellengrundlage der Rybalsker Version war eine Abschrift aus dem handschriftlichen Liederheft von Helene Faber (DVL – M 13, Nr. 2;). Eine weitere Liedaufzeichnung aus der Kolonie Waterloo (Kreis Nikolajew), die Schirmunski in seinem Aufsatz erwähnte, hat sich in seinem Archiv nicht erhalten.
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21.03.2016 06:22