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Gute Nacht, du Sündenleben


"Gute Nacht, du Sündenleben" entstand wahrscheinlich um 1860 auf eine wahre Begebenheit hin in einer russlanddeutschen Siedlung der Wolgaregion. Dieses Lied über die Verurteilung eines Geldfälschers und seine bevorstehende Verbannung nach Sibirien verbreitete sich in der gesamten Wolgaregion und war über viele Jahrzehnte ein äußerst beliebtes Lied der dort lebenden deutschstämmigen Siedler. Es kursierte in zwei unterschiedlichen Textfassungen: als fantasierte Introspektive und Klage des verurteilten "falschen Geldschlägers", sowie – vom historischen Ereignis losgelöst – als christlich-moralischer Appell zum Widerstand gegenüber der Verführungskraft des Materiellen. Im musikalischen Reisegepäck von Emigranten gelangte dieses Lied nach Argentinien, Deutschland und in die Vereinigten Staaten, wo es noch Anfang der 1970er Jahre von Nachfahren der wolgadeutschen Einwanderer gesungen wurde.

I. Die älteste bekannte Quelle von "Gute Nacht, du Sündenleben" ist die Edition in der Sammlung wolgadeutscher Lieder und Kinderreime von Johannes Erbes und Peter Sinner (1914). Dort ist eine sechsstrophige Fassung des Liedtextes abgedruckt (Edition A). In den Anmerkungen der Herausgeber findet sich auch der bislang einzige Hinweis zur Entstehungsgeschichte dieses Liedes: entstanden sei es wahrscheinlich in den 1860er Jahren in den Wolgakolonien, als Reaktion auf die damals dort grassierende Falschmünzerei. Mit seinen Eingangsversen greift der unbekannt gebliebene Verfasser zeitgenössische Textformeln geistlicher Lieder auf, ohne dass ein konkreter Choral als Vorlage auszumachen wäre. Möglicherweise bezog er sich auf das Bußlied "Gute Nacht, ihr eitlen Freuden, gute Nacht, du falsche Welt!", das auch im evangelischen Wolga-Gesangbuch enthalten ist ("Sammlung christlicher Lieder für die öffentliche und häusliche Andacht zum Gebrauch der deutschen evangelischen Kolonien an der Wolga"). Gesungen wurde es dort auf die Melodie von "Herr, ich habe mißgehandelt". Mit dieser assoziativen Verknüpfung zu gleich zwei geistlichen Bußliedern wäre "Gute Nacht, du Sündenleben" sinnig in einen größeren Bedeutungsrahmen eingebunden. Seine Melodie scheint jedoch eigenständig zu sein – sie ähnelt keiner der Weisen, die zu diesen Kirchenliedern überliefert sind. Falschmünzerei war ein Thema, das zu dieser Zeit auch in Mitteleuropa musikalisch verarbeitet wurde: etwa in der komischen Oper "Die Falschmünzer" von Daniel François Esprit Auber (1834). Zwischen den Liedern Aubers und dem wolgadeutschen "Gute Nacht, du Sündenleben" finden sich jedoch keine inhaltlichen oder musikalischen Parallelen.

II. "Gute Nacht, du Sündenleben" handelt in seiner ursprünglichen Fassung von einem Geldfälscher, der auf einen Hinweis seines Bruders hin gefasst wurde und nun nach Sibirien verbannt werden soll. Im Lied nimmt der unbekannt gebliebene Verfasser die Rolle seines Protagonisten ein und imaginiert in einem fiktiven Selbstgespräch dessen Seelenlage. Zunächst wird die aktuelle Situation umrissen: weil er "falsches Geld" machte, heißt es nun Abschied nehmen vom "Sündenleben" und der "eitle[n] Welt". Auf die Reue, sich nicht an die elterlichen Lebensregeln gehalten zu haben, folgt über drei Strophen hinweg eine bittere Anklage des Bruders. Dessen Verrat, als Kainstat beschrieben, wird als das eigentliche Verbrechen empfunden, hinter dem die Betrügerei des Geldfälschens ganz in den Hintergrund tritt. Der Falschmünzer selbst sieht sich indes nicht als Täter, sondern als Opfer des großen Verführers, des "verfluchte[n] Geld[es] auf Erden". Bei Erbes und Sinner ist diese erste Liedversion in einer unvollständigen sechsstrophigen Fassung belegt (Edition A). Eine um drei Strophen längere Variante findet sich in der 1937 herausgegebenen Sammlung wolgadeutscher Lieder aus Argentinien von Thomas Kopp (Edition D). Unklar ist, ob der gesamte Text der Kopp-Fassung dem ursprünglichen Lied entstammt oder ob Strophen später hinzugedichtet wurden.

III. Die Edition von Erbes und Sinner hatte wahrscheinlich zur Folge, dass diese sechs Strophen – als ein Rezeptionsstrang – sehr textgetreu tradiert wurden: im wolgadeutschen Kontext werden diese Zeilen bis in die 1960er Jahre immer wieder in dieser Form aufgegriffen. Parallel dazu ist, durch Auslassung und Umdichtung des Ursprungstextes, eine zweite Variante von "Gute Nacht, du Sündenleben" entstanden. In dieser wurde die Handlung auf vier Strophen gerafft und inhaltlich umgedeutet: es geht nun nicht mehr um die konkrete Tat eines Geldfälschers, sondern um die Verführungen der materiellen Welt, denen man nicht erliegen und um das Vorbild der Eltern, dem man folgen soll. Von den Gewährspersonen wird dieser Text als geistliches Lied aufgefasst. Zum ersten Mal belegt ist diese Version in der Sammlung russlanddeutscher Lieder des Musikwissenschaftlers Georg Schünemann (Edition B). Erstmals ist hier auch die Melodie des Liedes in zwei ähnlichen Fassungen aufgezeichnet. In der Wolgaregion ist diese Textvariante noch um 1930 anzutreffen. Nachfahren wolgadeutscher Auswanderer in den Vereinigten Staaten hatten sie zumindest bis Anfang der 1970er Jahre mit kaum verändertem Gesang in ihrem Repertoire (Edition E). Diese Melodie scheint die am meisten verbreitete gewesen zu sein. Allerdings wurde der Text auch auf die Weise des weithin bekannten russischen Liedes "Stenka Rasin" gesungen. Bekannt war "Gute Nacht, du Sündenleben" offenbar fast ausschließlich unter Wolgadeutschen. Ein singulärer Beleg stammt aus der Ukraine, wohin es vermutlich mit wolgadeutschen Umsiedlern gelangt ist. Drei der damaligen Studenten des Germanisten und Volkskundlers Viktor Schirmunski zeichneten diese inhaltlich sehr entstellte Version im Jahr 1927 in der russlanddeutschen Siedlung Belowesch auf (Edition C). Wolgadeutsche Emigranten nahmen dieses Lied auch in ihre neuen Siedlungsgebiete in Argentinien, den Vereinigten Staaten und Deutschland mit.

INGRID BERTLEFF
(November 2010)



Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: wenige Belege aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: wenige gedruckte Quellen
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: wenige Tonaufzeichnungen
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Gute Nacht, du Sündenleben (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/gute_nacht_du_suendenleben/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 12.09.2012 11:56
 

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