Edition E: Flüchtlingsversion 1952 copied.
E. Wieder ist das Leid geschehen
(Flüchtlingsversion 1952)
Text: anonym
Flüchtlingslied | ||
1. | Wieder ist das Leid geschehen | |
Für uns deutsche Leut gestellt, | ||
Von der Warthe müssen gehen | ||
Wir jetzt in die fremde Welt. | ||
2. | Von der Warthe sind gezogen | |
Wir Vertriebnen arm und reich, | ||
Keiner ging den Weg auf Rosen, | ||
Vor dem Feind sind alle gleich. | ||
3. | Eines Tages Früh am Morgen, | |
Grade vor der Winterszeit | ||
Mußten auf die Trübsalsstraße | ||
Alle, jung' und alte Leut. | ||
4. | Angespannt und schwer beladen | |
Stand der Wagen vor der Tür, | ||
Viele Sachen sehr zum Schaden | ||
Mußten liegen lassen wir. | ||
5. | Eilig hieß es fortgefahren, | |
Denn der Russe war schon nah, | ||
Der mit seinen vielen Waffen | ||
Bald schon konnte sein ganz da. | ||
6. | Menschen mußten auf der Straßen | |
Schwerbepackt im Frostwind gehn, | ||
Kinder weinten, Mütter klagten, | ||
Ach, es war kaum anzusehn. | ||
7. | Auf dem schweren Trübsalswege | |
Ging der Tod mit uns im Schritt: | ||
Kleine Kinder, alte Leute, | ||
Junge Menschen nahm er mit. | ||
8. | Und drum finden gar so viele | |
Ihre Lieben nimmermehr, | ||
Die da unterwegs geblieben, | ||
Suchen in der Welt umher. | ||
9. | Wer dem Russen ist entkommen, | |
Bis auf Deutschland fand hinein, | ||
Dem hat neues Leid begonnen: | ||
Heimatlos ein Flüchtling sein. |
Aufzeichnung aus mündlicher Überlieferung in Kassel (Hessen) durch Alfred Karasek im Herbst 1952; Gewährsperson: "Frau Arndt".
DVA: A 195363
Editorische Anmerkung:
Die Angabe "Sangesgegend: Leslau (Warthegau)" auf dem Quellenbeleg des Deutschen Volksliedarchivs ist irreführend. Richtig ist vielmehr, dass dieser Liedtext in russlanddeutschen Kreisen der damaligen Bundesrepublik kursierte, wie Karaseks Anmerkung zu seiner Aufzeichnung verdeutlicht: er gibt an, dass "die Überlieferungsträgerin Rußlanddeutsche ist". Sie habe das Lied "von ihren Landsleuten gehört, von wolhynischen Umsiedlern aus dem Warthegau, der Leslauer Gegend". Es handelte sich dabei also um (Russland-)Deutsche aus Wolhynien, die 1940 vom NS-Regime in das von deutschen Truppen besetzte Polen umgesiedelt wurden. Der westpolnische Powiat Włocławek wurde 1939–1945 als "Landkreis Leslau" im sogenannten "Reichsgau Wartheland" geführt. Von dort waren die Umsiedler 1945 vor der Roten Armee nach Westdeutschland geflohen. Erst hier ist wohl – wie der Liedtext verdeutlicht – die Umdichtung entstanden (und auch gesungen worden).
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19.02.2016 11:42