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Liederlexikon

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Aus Wolhynien sind gezogen

(Aus der Heimat mussten ziehen)

Das politische Ereignislied "Aus Wolhynien sind gezogen" entstand in der Zeit des Ersten Weltkriegs als Reaktion auf die Deportation der wolhynischen Bevölkerung nach Sibirien. Die Autorschaft des Liedes ist nicht gesichert, gesungen wurde der Text auf die Melodie des verbreiteten russischen Liedes "Stenka Rasin". Seit den 1920er Jahren war das Wolhynien-Lied in verschiedenen russlanddeutschen Siedlungsgebieten verbreitet. In den Zeiten des Zweiten Weltkriegs, der nazistischen Umsiedlungspolitik und der stalinistischen Arbeitsarmee entstanden verschiedene neue Umdichtungen, in denen der Liedtext mit Blick auf die jeweils aktuellen Ereignisse umgeschrieben wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Lied in der Bundesrepublik vorwiegend im Kreis von Vertriebenenorganisationen als "Flüchtlingslied" tradiert worden, in der Sowjetunion kursierte es wiederum unter den Russlanddeutschen als Gesang über die Zwangsarbeit in der "Trudarmee". Diese neuere Version – mit dem Incipit "Aus der Heimat mussten ziehen" – kam in den 1990er Jahren mit den russlanddeutschen Spätaussiedlern auch in die Bundesrepublik. Parallel dazu hat sich das anfängliche "Wolhynien-Lied" seit den 1990er Jahren zu einem festen Bestandteil der jüngeren wolhyniendeutschen Erinnerungskultur entwickelt.

I. "Aus Wolhynien sind gezogen" wurde in den Jahren 1915–1917 verfasst; seine Entstehung ist jedoch nicht näher geklärt. Von Zeitgenossen wurde berichtet, das Lied sei – kurze Zeit nach der Zwangsumsiedlung der Wolhyniendeutschen (1915) – in Sibirien entstanden; es sind in diesem Zusammenhang auch verschiedene Namen als Autoren des Liedes genannt worden – verlässliche Angaben liegen dazu jedoch nicht vor (John 2009). Die älteste bislang bekannte Quelle für den Liedtext ist ein 1917 in der Gegend von Nowgorod (Region St. Petersburg) angelegtes, privates Liederheft (Edition A). Weitere frühe Belege zur Liedgeschichte sind Aufzeichnungen seiner mündlichen Tradierung aus den 1920er Jahren in Wolhynien (Edition B) und in der Ukraine (Edition C).

II. Den historischen Hintergrund des Liedes bildet die kriegsbedingte Deportation der Wolhyniendeutschen, die ab Juli 1915 in weit von der Front entfernte Gebiete des russischen Reichs verbannt wurden, vielfach nach Sibirien. Der Liedtext schildert detailliert die leidvollen Erfahrungen dieser durch die zaristische Militäradministration veranlassten Zwangsumsiedlung: die unerwartete Plötzlichkeit der Verschleppung und die damit einhergehende Auflösung von sozialen Schranken und Strukturen ("alle waren jetzt sich gleich", Edition A, Str. 1); die Unausweichlichkeit des Schicksals: es ist ein "Befehl der Obrigkeit" (Str. 2), dem niemand entgehen konnte, von dem sich niemand freikaufen konnte ("keiner findet einen Retter, der ihn von der Not befreit", Str. 2); die endlos lange Reise, die durch alle denkbaren topographischen Erscheinungsformen führt und verschiedenste Transportmittel benötigt: neben Pferd und Wagen wird auch mit Dampfer, Kahn und Eisenbahn die weite Distanz überbrückt, und dabei geht die Reise quer durch Wälder und Felder, Hügel, Berge, Täler, Städte und Dörfer "ohne Zahl" (Str. 3); auch die existentiellen Auswirkungen werden angesprochen, denn schon "auf dem langen Trübsalswege" der Deportierten nach Sibirien "kam der Tod" (Str. 4): zahlreiche Menschen wurden Opfer der Strapazen, vor allem die Schwächeren ("kleine Kinder, alte Leute") starben schon auf dem Transport. Der aus heiterem Himmel kommende Einschnitt in die bisherige Existenz war eine traumatische Kollektiverfahrung ("Jeden drückt das schwere Leiden. Ach, wann endet doch das Leid!", Str. 4). Demgegenüber wird die Ankunft in Sibirien als Erleichterung und Erlösung empfunden (man wurde "freundlich aufgenommen" von "guten Leuten", man hatte nun "Wohnung und Quartier" und somit "Obdach", Str. 5). Sibirien war demnach der Ort, wo man erst einmal etwas zur Ruhe kommen konnte, wo sich die Reflexion des Erlebten vollzieht und wo auch nach dem Sinn für diese traumatische Erfahrung gesucht wird. Rahmen und Horizont für diesen Versuch einer Sinnstiftung bildet die christliche Glaubenswelt: So sei es Gottes Sorge zu verdanken, dass man in Sibirien vergleichsweise gut aufgenommen wurde, und auch die Unklarheit und Unsicherheit der Zukunft ("Aber wie's uns noch wird gehen, ist von allen jetzt verhüllt", Str. 6) wird Gottes Hand überantwortet. Der letzte Sinn solchen schweren Leides sei eine intensivere Glaubenserfahrung und die Eindämmung der Sünden ("damit doch die frechen Sünder dächten an die Ewigkeit", Edition C, Str. 8).

III. Mit der Rückkehr aus der Verbannung in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hat sich "Aus Wolhynien sind gezogen" in verschiedenen Siedlungsgebieten der Russlanddeutschen verbreitet, wie die räumlich weit gestreuten Aufzeichnungen des Liedes in den 1920er Jahren zeigen. Dabei fällt auf, dass sich einige wolhynische Versionen teilweise deutlich von anderen Liedfassungen unterscheiden. Hier finden sich Zusatzstrophen, in denen die Empörung über diese Zwangsumsiedlung weit stärker artikuliert wird (s. Edition B, Str. 2, 3, 9, 11–13), während die religiös geprägten Strophen nahezu komplett fehlen – und somit fast die Hälfte des gesamten Liedtextes. Ins Auge fällt zudem die vielfach veränderte Strophenform mit jeweils vier Versen (statt acht). Die Verbreitung des Liedes erfolgte damals vorwiegend im Kontext mündlicher Tradierung. Gedruckte Liedversionen waren demgegenüber in den 1920/30er Jahren extrem selten. In volkskundlicher Literatur wurde das Lied erstmals 1928 vom Sprachwissenschaftler Viktor Schirmunski veröffentlicht (s. Anmerkung zu Edition C), 1931 nahmen es auch Alfred Karasek und Kurt Lück in ihr Buch "Die deutschen Siedlungen in Wolhynien" auf, publizierten dort jedoch eine eher untypische und manipulierte Fassung mit der Anfangsstrophe "Also ist der Mordgedanken / Von der Obrigkeit gestellt" (Edition D).

IV. Eine gänzlich neue Rolle spielte das Lied in der Zeit des Zweiten Weltkriegs: Im Zuge der Umsiedlungen der Deutschen aus Galizien, Wolhynien (1939/40) und Bessarabien (1940) in das von deutschen Truppen besetzte Polen ("Reichsgau Wartheland") im Kontext des Hitler-Stalin-Paktes entstanden Umdichtungen des Liedes, in denen diese "Heim ins Reich"-Aktionen der NS-Administration lauthals begrüßt und dem "Führer" überschwänglich gedankt wurde (John 2009). Diese naive Euphorie entsprach einerseits der politischen Blindheit vieler Umsiedler, gleichzeitig korrespondierte sie dem propagandistischen Kalkül des NS-Regimes. Doch nur wenige Jahre später war die nazistische Ansiedlungspolitik im besetzten Polen mit dem militärischen Zusammenbruch des "Dritten Reichs" gescheitert, und die umgesiedelten Deutschen flohen zu Kriegsende aus dem "Warthegau". In diesem Kontext wurde das einstige Wolhynien-Lied erneut umgedichtet (Edition E). Als "Flüchtlingslied" kursierte es nach 1945 im Milieu der Vertriebenen in der Bundesrepublik und fungierte dort als gruppenspezifisches Medium der Erinnerung, wobei auch das "neue Leid", ein heimatloser Flüchtling zu sein (ebd., Str. 9), zum Ausdruck kam. Unter den verschiedenen Liedvarianten verbreitete sich dabei nun auch eine donauschwäbische Version: "Aus der Batschka mußten wandern" (Edition F).

V. Eine ganz andere Entwicklung nahm die Liedtradierung in der Sowjetunion. Das im Text beschriebene Schicksal der Deportation betraf in der Zeit des Stalinismus nicht mehr nur die Deutschen aus Wolhynien, sondern die Russlanddeutschen (wie auch andere Bevölkerungsgruppen) insgesamt. Welche Rolle das Wolhynien-Lied in diesem Zusammenhang gespielt hat, welche Formen der Rezeption damit einhergingen und in welchem Umfang sie erfolgten, liegt einstweilen noch im Dunkeln. Sicher ist nur, dass auch im Kontext der stalinistischen Repressionen – zumal Deportation und Zwangsarbeit – neuerlich Umdichtungen des Wolhynien-Liedes entstanden sind, die die leidvollen Erfahrungen in der sowjetischen "Arbeitsarmee" zum Ausdruck brachten. Dabei signalisiert bereits der nun ganz allgemein gehaltene Liedanfang "Aus der Heimat mussten ziehen, die Verjagten arm und reich" (Edition G), dass die regionale Herkunft der Betroffenen keine spezifische Rolle mehr spielte. Wann und wo diese neue Liedversion entstanden ist und welche Wege ihre Verbreitung nahm, ist bislang nicht bekannt, nur im Ergebnis lässt sich feststellen, dass sie unter den Russlanddeutschen hinter den Kulissen der poststalinistischen UdSSR kursierte.

VI. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Sowjetunion kam diese Version mit den russlanddeutschen Spätaussiedlern in den 1990er Jahren auch nach Deutschland. Als "Lied der verjagten Russlanddeutschen" – bisweilen auch der "verjagten Wolgadeutschen" (s. Anmerkung zu Edition G) – hat es in den letzten Jahrzehnten einen zunehmend markanten Stellenwert in der russlanddeutschen Erinnerungskultur erhalten. Parallel dazu entwickelten sich seit den 1990er Jahren neue Formen der wolhyniendeutschen Traditionspflege, in deren Kontext das ursprüngliche Lied der 1915 Deportierten wieder aufgegriffen wurde und nunmehr bei den "Heimattreffen" als repräsentatives Lied der Wolhyniendeutschen gepflegt wird (Düwell 2012). So unterschiedlich die Geschichtserfahrungen der Deutschen aus Wolhynien und der sowjetisch geprägten Russlanddeutschen sind – gemeinsam ist ihnen das mit diesem Lied einhergehende Selbstbild als Opfer der Geschichte: steht bei den Wolhyniendeutschen die Verbannung im russischen Zarenreich im Fokus, so sind es bei den russlanddeutschen Spätaussiedlern die bedrückenden Erlebnisse der stalinistischen Sowjetzeit.

ECKHARD JOHN
(September 2015)



Literatur
  • Susanne Düwell: "Heimat auf Zeit" – Soziokulturelle Entwicklung und Selbst-verständnis der Deutschen aus Wolhynien. In: Deutsche Musikkultur im östlichen Europa. Konstellationen – Metamorphosen – Desiderata – Perspektiven. Hrsg. Erik Fischer. Stuttgart 2012, S. 143–159 (zum Wolhynien-Lied v.a. S. 151–154).
  • Eckhard John: Das Lied als historisches Gedächtnis. Ein rußlanddeutscher Gesang über die Deportationen des 20. Jahrhunderts. In: 35th International Ballad Conference SIEF: Papers and Materials (2005, July 6–11, Kyiv, Ukraine). Kiev: Institut Mistectvoznavstva, folk'loristiki ta etnologii 2009, S. 94–109.
  • Gottfried Habenicht: Leid im Lied. Südost- und ostdeutsche Lagerlieder und Lieder von Flucht, Vertreibung und Verschleppung. Freiburg 1996, S. 253f. (Nr. 126), S. 364–366 und S. 369.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: etliche Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: —
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Eckhard John: Aus Wolhynien sind gezogen (2015). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/aus_wolhynien_sind_gezogen/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 28.09.2016 05:15
 

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