B. Annchen von Tharau ist, die mir gefällt
(Herders Volkslieder 1778)
Text: Simon Dach (1605–1659) zugeschrieben
Annchen von Tharau. | ||
Aus dem Preußischen Plattdeutsch. | ||
1. | Annchen von Tharau ist, die mir gefällt, | |
Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld. | ||
2. | Annchen von Tharau hat wieder ihr Herz | |
Auf mich gerichtet in Lieb' und in Schmerz. | ||
3. | Annchen von Tharau, mein Reichthum, mein Gut, | |
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut! | ||
4. | Käm' alles Wetter gleich auf uns zu schlahn, | |
Wir sind gesinnet bei einander zu stahn. | | [S. 93] | |
5. | Krankheit, Verfolgung, Betrübniß und Pein | |
Soll unsrer Liebe Verknotigung seyn. | ||
6. | Recht als ein Palmenbaum über sich steigt, | |
Je mehr ihn Hagel und Regen anficht; | ||
7. | So wird die Lieb' in uns mächtig und groß | |
Durch Kreuz, durch Leiden, durch allerlei Noth. | ||
8. | Würdest du gleich einmal von mir getrennt, | |
Lebtest, da wo man die Sonne kaum kennt; | ||
9. | Ich will dir folgen durch Wälder, durch Meer, | |
Durch Eis, durch Eisen, durch feindliches Heer. | ||
10. | Annchen von Tharau, mein Licht, meine Sonn, | |
Mein Leben schließ' ich um deines herum. | ||
11. | Was ich gebiete, wird von dir gethan, | |
Was ich verbiete, das läst du mir stahn. | | [S. 94] | |
12. | Was hat die Liebe doch für ein Bestand, | |
Wo nicht Ein Herz ist, Ein Mund, Eine Hand? | ||
13. | Wo man sich peiniget, zanket und schlägt, | |
Und gleich den Hunden und Kazen beträgt? | ||
14. | Annchen von Tharau, das woll'n wir nicht thun; | |
Du bist mein Täubchen, mein Schäfchen, mein Huhn. | ||
15. | Was ich begehre, ist lieb dir und gut; | |
Ich laß den Rock dir, du läßt mir den Hut! | ||
16. | Dies ist uns Annchen die süsseste Ruh, | |
Ein Leib und Seele wird aus Ich und Du. | ||
17. | Dies macht das Leben zum himmlischen Reich, | |
Durch Zanken wird es der Hölle gleich. |
Johann Gottfried Herder: Volkslieder. Erster Theil. Leipzig 1778. Nachdruck Hildesheim 1981, S. 92-94 (Nr. 20).
DVA: AV 291
last modified
21.06.2012 11:10