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Herzliebster Jesu


Bis in die Gegenwart erklingt das Passionslied "Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen" in christlichen Kirchen. In ihm wird das Leiden Christi spirituell ausgelegt, wobei vor allem die Ursachen und die Folgen der Passion verdeutlicht werden. Verfasst wurde das Lied von dem lutherischen Theologen Johann Heermann (1585–1647) zu Beginn des 17. Jahrhunderts.

I. Heermanns Text stellt eine Passionsmeditation dar. Die originale Überschrift dient als Leseanleitung: Der Leser/Sänger soll mit dem Autor einerseits die religiöse "Ursache" des Leidens Christi (die menschliche Sünde), andererseits den "Trost aus seiner Lieb und Gnade" bedenken. Damit umreißt Heermann die grundsätzliche Dialektik der lutherischen Passionsbetrachtung, die "paradoxa passionalia", wie es zeitgenössisch hieß: Der Gerechte leidet stellvertretend für die sündigen Menschen. Als ethische Konsequenz für diese "wunderbarliche" Strafe (Str. 4) wird Selbstverleugnung und Kreuzesnachfolge gefordert (Str. 10 bis 14). Das Lied endet mit einem eschatologischen Ausblick (Str. 15).

II. Der Autor, ein lutherischer Pfarrer zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, ließ sich bei seinen Liedern von den Kirchenvätern sowie von Theologen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit inspirieren. Das gilt auch für "Herzliebster Jesu". Die primären Quellen stellen Gebete aus dem späten 16. Jahrhundert dar, die ihrerseits auf die "Meditationes" zurückgehen, die früher Augustinus zugeschrieben wurden. Erstmals veröffentlicht wurde das Gedicht 1630 in Heermanns "Devoti Musica Cordis" (Edition A). Dort weist ihm der Autor die Melodie des geistlichen Liedes "Geliebten Freund, was tut ihr so verzagen" zu.

III. "Herzliebster Jesu" wurde bereits im 17. Jahrhundert in zahlreiche Gesang- und musikalische Andachtsbücher aufgenommen. Angefangen bei der frühesten bekannten Vertonung von Johann Staden (1631), die jedoch keine Wirkung entfaltete, wurden bis ins 19. Jahrhundert hinein neue Melodien zu dem Text geschaffen. Durchgesetzt hat sich jedoch bis in die Gegenwart jene Weise, welche 1640 Johann Crüger nach einem Modell aus dem Genfer Psalter im vierstimmigen Satz komponiert hat. 1648 übernahm Crüger das Lied in sein wirkmächtiges musikalisches Andachtsbuch "Praxis pietatis melica" (hier lediglich als Cantus mit Generalbass; Edition B). Von dort aus fand das Lied Eingang in die Kirchengesangbücher. Seit dem 18. Jahrhundert ist es im evangelischen Kulturraum allgemein verbreitet und wird in der Passionszeit gesungen.

IV. Johann Sebastian Bach (1685–1750) hat das Lied in seine oratorischen Passionen nach Matthäus und Johannes (BWV 244 und 245) integriert. Diese Einbindung bezeugt genauso wie die zeitgenössische Predigtliteratur, wie Heermanns Text in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstanden wurde und dazu diente, die biblisch bezeugte Passion geistlich zu deuten.

V. Ausgehend von den ästhetischen und theologischen Idealen der Aufklärung hat Friedrich Gottlob Klopstock 1773 den Text umgebildet und durch eine zusätzliche, refrainartig sich wiederholende Liedstrophe (mit der Melodie von "O Traurigkeit, o Herzeleid") ergänzt (Edition C). Andere Bearbeitungen des Heermann-Textes wurden in evangelischen Gesangbüchern der Aufklärung abgedruckt, etwa in Wiesbaden 1779 (Edition D). Wohl singulär ist die Rezeption der Strophen 1 bis 5 der Klopstock-Fassung im 1810/11 publizierten "Katholischen Gesangbuch" von Kaspar Anton Mastiaux (Edition E).

VI. Im 20. Jahrhundert wird der ursprüngliche Heermann-Text in den Kirchengesangbüchern gekürzt dargeboten: Während im Evangelischen Kirchengesangbuch von 1950 noch 13 Strophen abgedruckt wurden, stehen im Evangelischen Gesangbuch von 1993 nur elf Strophen (Edition F). In der katholischen Kirche hat erst die Sammlung "Kirchenlied" (1938) die Rezeption angestoßen. Diese beschränkt sich allerdings auf vier Strophen. Das katholische Einheitsgesangbuch "Gotteslob" (1975) ist dieser Fassung gefolgt. Vereinzelt wurde das Lied im 20. Jahrhundert auch in religiös gefärbte Gebrauchsliederbücher aufgenommen.

VII. Abgesehen von seiner gottesdienstlichen Verwendung als Gemeindelied und kirchenmusikalischen Bearbeitungen (als Orgelwerk, Motette, Kantate) lebt "Herzliebster Jesu" in der Gegenwart durch die Aufführungen der Bachschen Passionen, seines Choralvorspiels (BWV 1039) sowie der Bearbeitung von Johannes Brahms für Orgel (op. 122) fort. Im frühen 20. Jahrhundert hat Johannes Weyrauch eine Sonate für Bratsche und Orgel mit dem Titel "Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen" (1930) geschaffen.

MICHAEL FISCHER
(Juli 2005 / Juni 2007)



Literatur
  • Hermann Kurzke: "Herzliebster Jesu". In: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. Hrsg., vorgestellt und erläutert von Hansjakob Becker u.a. München 2001, S. 216–223.
  • Elke Axmacher, Andreas Marti: "Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen". In: Ökumenischer Liederkommentar zum Katholischen, Reformierten und Christkatholischen Gesangbuch der Schweiz. Freiburg (Schweiz) 2000ff., o.S. (Loseblatt-Sammlung).
  • Siegfried Fornaçon, Jürgen Grimm: "Herzliebster Jesu". In: Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch. Hrsg. von Christhard Mahrenholz und Oskar Söhngen. Bd. 3: Liederkunde. Erster Teil. Göttingen 1970, S. 283–286.

Editionen und Referenzwerke

Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: keine Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: sehr häufig in Kirchengesangbüchern, selten in Gebrauchsliederbüchern,
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: häufig auf Tonträgern
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Darüber hinaus wurden auch die Bestände des Gesangbucharchivs Mainz sowie (hinsichtlich der Tonträger) des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Michael Fischer: Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen (2007). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/herzliebster_jesu/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 16.10.2012 10:41
 

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