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Seht, da steht der große Hecker

(Das Guckkasten-Lied vom großen Hecker)

"Seht, da steht der große Hecker" ist eines der bekanntesten Lieder über den legendären badischen Revolutionär Friedrich Hecker; es wurde 1848 von Karl Christian Gottfried Nadler im Stil eines Bänkelliedes geschrieben. Im Gegensatz zu anderen Hecker-Liedern war dieses ursprünglich eine Verspottung von Hecker und dem gescheiterten Aufstand im Frühjahr 1848. Im Rahmen des im 19. Jahrhundert ausgeprägten Hecker-Kultes erlangte das Lied in (Süd-)Deutschland jedoch nachhaltige Verbreitung und änderte dabei seine Funktion: Es trug nunmehr zur Ausbildung der Hecker-Verehrung bei. Im frühen 20. Jahrhundert ist das Lied "vom großen Hecker" nur noch vereinzelt rezipiert worden. Erst im Rahmen der Wiederbelebung von Liedern der 1848er Revolution in den 1960er Jahren wurde der Liedtext von Peter Rohland wieder aufgegriffen und mit einer eigenen Melodie unterlegt.

I. Das höhnische Lied über den "großen Hecker" entstand im Frühsommer 1848, kurze Zeit nach der Niederschlagung des Hecker-Aufstands (April 1848). Der Autor des Textes, Karl Christian Gottfried Nadler (1809–1849), war ein Heidelberger Rechtsanwalt, der sich auch als volkstümlicher pfälzischer Dichter betätigte. Den umstürzlerischen Ereignissen seiner Zeit stand Nadler ablehnend gegenüber. Neben Friedrich Hecker nahm er nach dem zweiten bewaffneten Aufstand in Baden (September 1848) auch Gustav von Struve aufs Korn ("Lied von dem weltberühmten Struwwel-Putsch"). Nadler ließ seine politischen Satiren über die damals populären Medien der Bilderbogen und Flugschriften verbreiten. Auf diesem Wege erlangte sein "Guckkastenlied vom großen Hecker" unmittelbar 1848 große Bekanntheit (Edition A). Eine Anzeige aus der Oberrheinischen Zeitung vom 11. August 1848 dokumentiert die Vertriebspraxis (Abb. 2) und ermöglicht in der Zusammenschau mit Abdrucken in Zeitungen eine relativ genaue Datierung von Nadlers Lied. Parallel zum kolorierten Bilderbogen (Abb. 1) erschien der Text als Flugschrift – dort mit der Autorenangabe "Johann Schmitt", einem Pseudonym Nadlers. In den Folgemonaten erweiterte Nadler sein 17strophiges Lied noch um weitere fünf Strophen (Edition B).

II. Im sogenannten "Guckkastenlied vom großen Hecker" karikiert Nadler die Geschehnisse des Heckerzuges von Konstanz nach Kandern im sensationsheischenden Duktus des stilisierten Bänkelsangs und nimmt dabei besonders prominente Persönlichkeiten, die an dem Geschehen beteiligt waren, aufs Korn. Durchweg werden die Revolutionäre und ihr Anliegen parodiert und lächerlich gemacht: Gustav von Struve wird beispielsweise "Struwel" genannt, was in Verbindung mit Joseph Ignaz Peter, den Hecker in Konstanz als Statthalter der Republik eingesetzt hatte, ein Wortspiel ergibt, das bewusst Assoziationen zu der bekannten Figur des "Struwwelpeter" aus dem gleichnamigen Kinderbuch (4. Aufl. 1847) wecken sollte (Edition A, Str. 8). Auf den Namen Heckers bezieht sich wiederum das Wortspiel "Jed' Kameel hat seinen Höcker" (Edition B, Str. 21). Das Lied ist ein satirisches Zeitdokument, das die geschichtlichen Fakten der politischen Parteilichkeit des Autors unterordnet. So ist etwa die Behauptung in der zweiten Strophe, dass Hecker mit einer Unterstützung durch Georg Herweghs Deutscher Legion gerechnet habe, Teil der damaligen antirevolutionären Stimmungsmache. Tatsächlich hatte Hecker auf Herweghs Hilfsangebot aus Paris nicht geantwortet, weil er (mit Recht) befürchtete, dass die Teilnahme von französischen und polnischen Freiwilligen unter den Freischärlern in der deutschen Bevölkerung nicht auf positive Resonanz stoßen würde, sondern vielmehr als französische Einmischung verstanden worden wäre. Gleichermaßen kolportierte Nadler das damals kursierende Gerücht, Herwegh sei 1848 schon vor Beginn der Kampfhandlungen geflohen und versteckt unter dem Spritzleder einer Kutsche vor den württembergischen Truppen in die Schweiz geflüchtet.

III. Das Lied ist – so vermerkt der Autor ausdrücklich – "nach bekannter Melodei zu singen" (Edition A). Welche Melodie damit gemeint war, lässt sich historisch bislang nicht eindeutig belegen, denn die früheste bekannte musikalische Quelle zu diesem Lied stammt erst aus dem Jahr 1926. Es gibt jedoch Indizien dafür, dass es die Melodie des Liedes "Oh du Deutschland, ich muss marschieren" gewesen sein könnte. Zum einen lässt sie sich in der späteren Liedtradierung nachweisen (s. Edition D), zum anderen war diese Weise um 1848 eine tatsächlich sehr "bekannte Melodei". Insbesondere würde ihre Verwendung in hohem Masse den satirischen Intentionen Nadlers entsprechen: Denn der Text, den die damaligen Zeitgenossen zu dieser Melodie im Ohr hatten – "O du Deutschland, ich muß marschieren, o du Deutschland, ich muß fort! / Eine zeitlang muß ich scheiden, eine zeitlang muß ich meiden / mein geliebtes Vaterland." (Erk/Böhme 1894, Nr. 1375) – implizierte zusätzlichen Spott auf den ins Exil geflohenen Hecker. Die Verwendung dieser Melodie unterstreicht somit auch über die musikalische Ebene den sarkastischen Ansatz des Autors, sie würde (sofern dies gegeben war) zu einem Medium hohnlachender Intertextualität. Dieses Mittel verwendet Nadler auch in zwei seiner Zusatzstrophen, die ein ironisches Zitat des Hecker verehrenden Liedes "Hecker! Hoch dein Name schalle!" enthalten (s. Edition B, Str. 8 und 20).

IV. Die lebhafte zeitgenössische Rezeption von Nadlers Spottlied veranschaulichen nicht nur die verschiedenen Ausgaben seiner Drucke (s. Edition B), sondern auch Abschriften in handschriftlichen Liederheften, zumal aus dem Jahr 1849 (s. DVA: A 201901) sowie die von Gustav Radbruch konstatierte sprichwörtliche Verbreitung der Zeilen "Heiß fiel es dem Herwegh bei, daß der Hinweg besser sei". Ab 1849 wurde das Lied zudem in verschiedenen Auflagen der "Musenklänge aus Deutschlands Leierkasten" abgedruckt, wobei bereits hier die auch später rezeptionsprägende Version mit 17 Strophen Verwendung fand (Abb. 3). Nach Nadlers frühem Tod am 26. August 1849 erschien das "Guckkastenlied" zudem in den Neuauflagen seines Gedichtbandes "Fröhlich Palz, Gott erhalts!" (1851–1893). Ansonsten nahm die publizistische Präsenz des Liedtextes ab. Bis 1865 war Nadlers Hecker-Satire noch in den "Musenklängen" enthalten, doch ab der 10. Auflage von 1867 verzichtete man auch hier auf einen Abdruck. In der mündlichen Überlieferung lebte das Lied jedoch weiter. Dabei verlor es zunehmend seine Funktion als Spottlied. Es wurde vielmehr zu einem der verschiedenen Gesänge, die den badischen Revolutionshelden verehrten, und somit Teil des seinerzeit verbreiteten Hecker-Kultes (Edition C). Der volkskundlichen Sammeltätigkeit von Mitarbeitern des Deutschen Volksliedarchivs ist 1926 schließlich die erste Liedaufzeichnung mit Melodie zu verdanken (Edition D).

V. Eine Wiederbelebung des Liedes begann in den 1960er Jahren im Kontext der Wiederentdeckung der 1848er-Lieder. Peter Rohland, ein Protagonist dieser Bewegung, nahm 1965 eine verkürzte Version von "Seht, da steht der große Hecker" auf und schrieb dafür eine eigene Melodie im Stil des damals bei deutschen Liedermachern einflussreichen französischen Chansons (Edition E). Diese Liedfassung wurde zunächst von anderen übernommen, etwa 1978 von Buki (Roland Burkhart) und Bernard Richter. Insgesamt spielte das "Guckkastenlied" jedoch im Kontext des 1848er-Revivals eine randständige Rolle. Spätere Aufnahmen griffen auf die Melodie der 1926 aufgezeichneten Weise zurück (s. Edition D). Möglicherweise entspricht diese auch der historischen Melodie zu Nadlers Lied – doch selbst wenn es die 'richtigen Noten' zu diesem Text sein sollten, können sie nicht mehr die ursprüngliche satirische Sprengkraft dieser Text-Musik-Kombination reanimieren: Denn niemand assoziiert zu dieser Melodie heute das alte Soldatenabschiedslied "O du Deutschland, ich muss marschieren"; vielmehr hat man dabei mittlerweile das semantische Feld von "Weißt du wieviel Sternlein stehen" in den Ohren (und im Kopf).

DAVID ROBB
ECKHARD JOHN
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(März 2011)


Editionen und Referenzwerke


Weiterführende Literatur
  • Klaus-Peter Schroeder: Karl Gottfried Nadler – Ein Poet und Advokat aus Kurpfalz. In: Juristen als Dichter. Hrsg. von Hermann Weber. Baden-Baden 2002, S. 21–30.
  • Peter Assion: Der Heckerkult. Ein Volksheld von 1848 im Wandel seiner geschichtlichen Präsenz. In: Zeitschrift für Volkskunde 87 (1991), S. 53–76.
  • John Meier: Lieder auf Friedrich Hecker. In: ders.: Volksliedstudien. Straßburg 1917, S. 214–246, dort S. 232–236.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: verschiedentlich auf Flugschriften, sehr selten in Gebrauchsliederbüchern, etliche sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: illustrierte Drucke
  • Tondokumente: selten auf Tonträgern (s. Diskographie)
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
David Robb, Eckhard John: Seht, da steht der große Hecker (2011). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/seht_da_steht_der_grosse_hecker/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 16.10.2012 11:26
 

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