Nun bitten wir den heiligen Geist
"Nun bitten wir den heiligen Geist" gehört zu den ältesten deutschen Kirchenliedern. Die erste Strophe wurde schon im 13. Jahrhundert gesungen; die Strophen 2 bis 4 stammen von Martin Luther (1483–1546). Heute ist der Gesang sowohl im Protestantismus als auch im Katholizismus – allerdings in unterschiedlichen Fassungen – beheimatet. Er wird vornehmlich als Heilig-Geist-Lied, aber auch bei Begräbnissen, verwendet.
I. Die erste Strophe des mittelalterlichen Liedes ruft die dritte trinitarische Person, den Heiligen Geist, als Sterbebeistand an. Durch den geistgewirkten "rechten Glauben" soll nämlich der Eingang in die himmlische Herrlichkeit verbürgt werden. Der Sprecher ist sich dabei bewusst, dass das Irdische nur vorläufig ist. Entsprechend wird die Welt als "Elend" bezeichnet, was soviel wie 'Ausland' oder auch 'Exil' bedeutet. Die wahre Heimat des Menschen ist dieser Vorstellung gemäß der Himmel (nach Phil 3,20). Überliefert wird dieses einstrophige Lied bereits in einer Berthold von Regensburg (um 1210–1272) zugeschriebenen Predigt (Edition A). Demnach war die einstrophige Leise bereits Mitte des 13. Jahrhunderts bekannt, und zwar ursprünglich als Sterbelied. Sekundär ist es im Spätmittelalter auch als Predigt- und Prozessionslied verbreitet.
II. Die Reformation hat viele mittelalterliche Traditionen aufgegriffen und theologisch umgeformt. Das gilt auch für die Leise "Nun bitten wir den heiligen Geist": Die drei von Martin Luther zugefügten Liedstrophen orientieren sich an der Trias Glaube – Liebe – Hoffnung. Strophe 2 spitzt den Glauben christologisch zu (Erkenntnis Christi), Strophe 3 thematisiert die Nächstenliebe, die vierte Strophe schließlich die Hoffnung. Der Tröster (paracleticus) soll helfen, damit sich der Sterbende nicht vor den Mächten des Todes fürchte. Die drei Strophen können auch mit Luthers Schema fides, charitas und crux in Verbindung gebracht werden, wobei hier das Kreuz nicht für das Leiden Christi steht, sondern für die Anfechtungen der Menschen, besonders im Tod (Verzweiflung).
III. Die frühesten Drucke des Liedes (Luther-Fassung) stammen aus dem Jahr 1524. Es findet sich in der Sammlung "Teutsch Kirchen ampt" aus Straßburg und in Johann Walters Chorgesangbuch (Edition B). Die dort wiedergegebene Melodiegestalt hat sich im protestantischen Bereich durchgesetzt. Freilich wurde die Weise – wie fast alle anderen rhythmisch gestalteten Melodien – im Laufe der Zeit geglättet. Die Vertreter der Choralrestauration stellten jedoch im 19. Jahrhundert die ursprüngliche Rhythmik wieder her.
IV. Auch katholische Gesangbuchherausgeber des 16. Jahrhunderts wollten auf diesen Gesang nicht verzichten. Zum einen erforderte die protestantische Innovation auf dem Gebiet des Gemeindegesangs eine Antwort, zum anderen konnten die Altgläubigen auf den vorreformatorischen Ursprung der deutschsprachigen Gesänge verweisen. Die Fassung aus Michael Vehes Gesangbuch (Leipzig 1537) setzt in der vierten Strophe einen dezidiert gegenreformatorischen Akzent: Die Formulierung "Laß uns nit weichen vom rechten glauben" zielt hier auf die Sicherstellung und Bewahrung des römisch-katholischen Bekenntnisstandes ab (Edition C). In Vehes Gesangbuch wird "Nun bitten wir den heiligen Geist" erstmals auch als Pfingstlied verstanden, allerdings bleibt es mit der Predigt verbunden.
V. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es verschiedene Versuche, das Lied den religiösen und ästhetischen Erfordernissen der Zeit anzupassen. In der "Sammlung christlicher Gesänge" (Leipzig 1796) wird in der ersten Strophe nicht mehr positiv um den rechten Glauben gebeten, sondern negativ und abgrenzend um Bewahrung vor falscher Lehre und um die Bekehrung der Irrenden. Erst in der zweiten Strophe wird vom Glauben gesprochen, verknüpft mit ethischen Impulsen (Edition D). Im katholischen Gesangbuch "Cantate" von Heinrich Bone (1813–1893), das 1847 in Mainz aufgelegt wurde, wird der Heilige Geist nicht "um", sondern "im" rechten Glauben angefleht (Edition E). Offensichtlich galt die Bitte um den Glauben (der als selbstverständlich vorausgesetzt wurde) konfessionsübergreifend und unabhängig vom religiös-ästhetischen Milieu zwischen 1800 und 1850 als anstößig.
VI. Mit der Luther-Renaissance und der Choralrestauration des 19. Jahrhunderts wurde die ursprüngliche Luther-Fassung im evangelischen Kulturraum allmählich wiederhergestellt. Bis heute wird diese gesungen. Auffallend ist, dass die katholische Tradition mit dem Barockzeitalter – von wenigen Ausnahmen abgesehen – abreißt. Wiederentdeckt wurde das Lied von der katholischen Restauration (Edition E). Breit rezipiert wurde es jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wirkungsgeschichtlich zentral war dabei die Sammlung "Kirchenlied" (Freiburg 1938), die sich an den katholischen Fassungen der Gegenreformation orientierte.
VII. Im katholischen Einheitsgesangbuch "Gotteslob" wurde 1975 eine Mischfassung abgedruckt (Edition F). Die Strophen 2 bis 4 stammen hier von Maria Luise Thurmair (1912–2005), während Strophe 5 aus dem Gesangbuch von Michael Vehe (1537) entnommen ist. Bemerkenswert ist, dass Thurmair durchaus bei Luther Anleihen gemacht hat, die eschatologische Dimension der ursprünglich vierten Strophe aber ganz getilgt wurde. Ebenfalls neu gefasst wurde die Melodie; dabei wurden die Unterschiede in den Notenwerten (Längen und Kürzen) angeglichen.
MICHAEL FISCHER
(Juni 2005 / September 2007)
Literatur
- Hermann Kurzke: Nun bitten wir den Heiligen Geist. In: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. Hrsg., vorgestellt und erläutert von Hansjakob Becker u.a. München 2001, S. 42–50.
- Gerhard Hahn, Hans-Otto Korth: Nun bitten wir den Heiligen Geist. In: Ökumenischer Liederkommentar zum Katholischen, Reformierten und Christkatholischen Gesangbuch der Schweiz. Freiburg (Schweiz) 2000ff., o. S. (Loseblatt-Sammlung).
- Gerhard Hahn: Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes. München 1981, S. 190–195.
- Siegfried Fornaçon, Jürgen Grimm: Nun bitten wir den Heiligen Geist. In: Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch. Hrsg. von Christhard Mahrenholz und Oskar Söhngen. Band III,1: Liederkunde. Göttingen 1970, S. 390–393.
Editionen und Referenzwerke
- Luther 1985, S. 76f. u. S. 223–225 (Nr. 19)
- Erk/Böhme 1894, S. 687f. (Nr. 1980)
- Zahn 1889, Bd. 1, S. 546f. (Nr. 2029)
- Bäumker 1886, Bd. 1, S. 635–638 (Nr. 337) u. Bd. 4, S. 511 (Nr. 117).
- Fischer 1879, Bd. 2, S. 99f.
- Wackernagel 1867, Bd. 2, S. 44 (Nr. 43f.)
- Kehrein 1859, Bd. 1, S. 548–550 (Nr. 271)
Quellenübersicht
- Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
- Gedruckte Quellen: sehr häufig in Kirchengesangbüchern, gelegentlich in Gebrauchsliederbüchern, vereinzelt auf Flugschriften
- Bild-Quellen: —
- Tondokumente: viele Tonträger
Zitiervorschlag
Michael Fischer: Nun bitten wir den heiligen Geist (2007). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/nun_bitten_wir_den_heiligen_geist/>.
© Deutsches Volksliedarchiv