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Die angenehme Sommerzeit


Das Lied über "Die angenehme Sommerzeit" ist ein deutsch-russisches Mischlied, das vermutlich in der Zeit um 1870 entstanden ist. Es schildert auf humoristische Weise einen Sonntagsausflug zu den beliebtesten Ausflugszielen in und um St. Petersburg, wobei der Witz an der Sache insbesondere im pfiffigen Spiel mit den Sprachebenen, dem Deutschen und dem Russischen, besteht. Das Lied war bereits in der Zeit der Jahrhundertwende in verschiedenen Siedlungsgebieten der Russlanddeutschen verbreitet und wurde unter den sogenannten "kolonistischen Liedern" – also den in den russlanddeutschen Dörfern und Siedlungen ("Kolonien") entstandenen "Volksliedern" – eines der populärsten.

I. Die Ursprünge des Liedes liegen bislang im Dunkeln; vermutlich stammt es aus dem städtischen Milieu der "Petersburger Deutschen". Der früheste bekannte Beleg ist ein – einstweilen nicht mehr greifbarer – baltischer Lieddruck aus dem Jahr 1871. Unter dem Titel "St. Petersburger Sommerfreuden" (gedruckt bei J. F. Steffenhagen und Sohn in Jelgawa/Mitau) soll das Lied 18 Strophen umfasst haben – was angesichts der längsten erhaltenen Liedfassung mit 17 Strophen (vgl. Edition C) auch nicht unwahrscheinlich erscheint. Nicht verifizieren lässt sich dagegen eine gelegentlich genannte Autorschaft des Rigaer Lokalpoeten Eduard Grunwaldt (1821–1891), dem Verfasser der ebenfalls weit verbreiteten Liedparallele "Die angenehme Winterzeit".

II. Aus Sicht der russlanddeutschen Landbevölkerung (der "Kolonisten") schildert das Lied einen Ausflug in die Metropole des Zarenreichs als unternehmungslustige Teilhabe am städtischen Amusement. Angesteuert werden die verschiedensten Lustbarkeiten um St. Petersburg: Es geht etwa zu den Zarenschlösser in Zarskoje Selo, Pawlowsk und Peterhof, zur Insel Krestowski in der Newa-Mündung, zum Sommergarten, dem Volkspark Katharinenhof oder dem Kullerberg in Alt-Petersburg. Die Zweisprachigkeit wird in diesem Lied nicht eingesetzt, um das kulturell oder ethnisch Andere mittels abfälliger Sprachbehandlung lächerlich zu machen. Das Spiel mit den Sprachebenen beruht vielmehr auf einem subtilen Witz, der sich letztlich nur dem vollends erschließt, der beide Sprachen (und Kulturen) ernst nimmt und versteht.

III. Seit den 1880er Jahren ist das Lied in den russlanddeutschen Dörfern um St. Petersburg belegt (Edition A) und spätestens in der Zeit der Jahrhundertwende ist es auch in den südlichen Siedlungsgebieten der Russlanddeutschen beliebt. An der Wolga, in der Südukraine und in Bessarabien bildete sich jedoch eine abweichende Textgestalt heraus: Hier wurde nach den vier ersten Liedstrophen auf eine weitere ausführliche Beschreibung der Petersburger Ausflugsmöglichkeiten verzichtet. Stattdessen folgte nun dem Ende der Spazierfahrt eine Weiterdichtung, die dann besonders die Rückkehr nach Hause genauer thematisiert und dabei das kolonistische Eheleben in seinen raueren Facetten (zwischen Alkohol und Prügel) zur Sprache bringt (Edition B). Diese Strophen sind aus den Kolonien um St. Petersburg nicht überliefert.

IV. Auch hinsichtlich der überlieferten Melodien lassen sich regionale Unterschiede feststellen. Die am häufigsten zu findende Melodie dieses Liedes ist genau besehen stets in Südrussland aufgezeichnet worden (Edition C). Ob diese Melodie auch im Gebiet um St. Petersburg/Leningrad gesungen wurde, ist unklar. Die einzige Melodieaufzeichnung von der Newa hat eine andere Gestalt (Edition D). Freilich sind auch aus Südrussland noch andere Melodien zu diesem Lied belegt.

V. "Die angenehme Sommerzeit" war noch in der frühen Sowjetzeit ein sehr beliebtes Lied in den russlanddeutschen Dörfern und lässt sich von den 1920er-Jahren bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges nachweisen. Es fand auch bei Russlanddeutschen in Übersee Verbreitung, etwa in Argentinien und den USA. Die genauen Konturen der Rezeptionsgeschichte dieses Liedes können aber kaum mehr rekonstruiert werden. Belegt ist, dass sich solche humorvollen Mischlieder bei den "Kolonisten" großer Beliebtheit erfreuten. Aber mit der zunehmend nationalistischen Ideologisierung des "Volksliedes" wurden zweisprachige Lieder wie dieses aus dem Repertoire der "Volkslied"-Sammler und -Sammlungen weitgehend eliminiert.

ECKHARD JOHN
(April 2006)



Literatur
  • Eckhard John: »Da amüsiert der Nemez sich«. Die »kolonistischen Lieder« der Russlanddeutschen. In: Lied und populäre Kultur / Song and Popular Culture 48 (2003), S. 163–205.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: vergleichsweise häufige Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung (russlanddeutscher Provenienz)
  • Gedruckte Quellen: verschiedentlich in Gebrauchsliederbüchern (ausschließlich in russlanddeutschen)
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: einzelne Tonaufzeichnungen (nur Phonogrammaufnahmen)
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Eckhard John: Die angenehme Sommerzeit (2006). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/die_angenehme_sommerzeit/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 27.11.2012 12:51
 

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