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Brüder, zur Sonne, zur Freiheit


Das politische Lied "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" ist eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung. Der Dirigent Hermann Scherchen hat es 1920 in Anlehnung an das russische Revolutionslied "Smelo tovarišči v nogu" geschrieben.  Das Lied fand rasche Verbreitung und wurde in der Zeit der Weimarer Republik das einflussreichste neue Lied in der Arbeitermusikkultur. Seine internationale Ausstrahlung lässt sich an verschiedenen Übersetzungen in andere Sprachen ablesen. Nazistische Umdichtungen des Liedes verhinderten nicht, dass "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine exponierte Stellung im Repertoire der Arbeiterlieder einnahm und die politische Geschichte – zumal der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und Bewegungen – in der DDR, der Bundesrepublik und in Österreich in prominenter Weise begleitete.

I. Der als engagierter Vertreter der Neuen Musik bekannte Dirigent Hermann Scherchen (1891–1966) leitete zu Beginn der 1920er Jahre in Berlin auch zwei Arbeiterchöre. Die Zeit des Ersten Weltkrieges hatte der Musiker in Russland als Zivilinternierter verbringen müssen und danach das revolutionäre Petrograd erlebt. Dort lernte Scherchen im Dezember 1917 das Revolutionslied "Smelo, tovarišči v nogu" (Vorwärts Genossen, im Gleichschritt) kennen, welches ihm durch "die große Volksdemonstration, die nach der ersten Bekanntgabe der Brest-Litowsker Friedensvorschläge die Straßen durchzog", eindrücklich in Erinnerung blieb: "Ein Lied begleitete ohne Aufhören den vielstündigen Vorbeimarsch; immer wieder hämmerte sich mir die Melodie in die Ohren, die heute als 'Brüder, zur Sonne, zur Freiheit' überall, wo Proletarier sind, gesungen wird" (Scherchen 1928). Seine deutsche Fassung des russischen Revolutionsliedes schrieb Scherchen 1920 nach dem rechtsgerichteten Kapp-Putsch, dem anschließenden Generalstreik der Arbeiterschaft und den revolutionären Märzaufständen und führte diese im August 1920 mit seinen Berliner Chören als "Russischen Rotgardistenmarsch" erstmals auf. Gleichzeitig erschien das Lied in sozialistischen Liederbüchern (Edition A). Scherchen hatte damals noch ein weiteres russisches Lied bearbeitet: den "Trauermarsch" auf die Opfer der russischen Revolution von 1905 ("Unsterbliche Opfer ihr sanket dahin"). Er publizierte beide Lieder gemeinsam und in der Folge sind sie in den 1920er Jahren häufig zusammen aufgeführt und gedruckt worden.

II. Scherchen schrieb seinen Liedtext "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" weitgehend unabhängig von der russischen Vorlage. Mit Metaphern wie Sonne, Freiheit, Licht und Zukunft, sowie den Gegenbildern des "dunklen Vergangenen", der Nacht und Knechtschaft, war der Text vollständig dem Duktus der traditionellen sozialdemokratischen Lieder aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verhaftet, wie sie etwa in "Empor zum Licht!" (Gustav Adolph Uthmann) oder "Glück auf, Kameraden, durch Nacht zum Licht" (Heinrich Kämpchen) zum Ausdruck kommen. Auch das in der dritten Strophe besungene Signum der Einheit ("in eins nun die Hände") zählt zu dieser Tradition, ebenso wie die Sakralisierung der "letzten Schlacht". Diese nimmt deutlich Bezug auf die Formel "Auf zum letzten Gefecht" im Text der "Internationalen" (in der deutschen Übertragung durch Emil Luckhardt). Gleichzeitig implizierte die beschworene Einheit angesichts der Spaltungen in der sozialistischen Bewegung nach der Revolution 1918 eine politisch ungleich virulentere Botschaft als in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Doch der Liedtext argumentiert dabei nicht konkret und politisch, er appelliert in eher unbestimmter Weise ans Gefühl. Das lässt Raum für vielerlei Assoziationen und Implikationen, machte den Text aber auch anfällig für politische Indienstnahmen unterschiedlichster Couleur. In den 1920er Jahren lebte er indes zunächst wesentlich von seinem Symbolwert als Lied der (erfolgreichen) russischen Revolution. Im Unterschied zum Text hatte Scherchen die Melodie der russischen Vorlage "Smelo tovarišči v nogu" nur leicht bearbeitet (s. Anmerkung zu Edition C).

III. Vor dem Hintergrund des politischen Klimas der Weimarer Republik stieß "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" rasch auf starke Resonanz. Dabei provozierte Scherchens Text schon 1921 eine Umdichtung von kommunistischer Seite: Angesichts der bewaffneten Arbeiterrevolte ("Märzaktion") in Mitteldeutschland erschien mit "Brüder ergreift die Gewehre" eine revolutionäre Textfassung, die sich weit stärker am russischen Liedtext orientierte (Edition B). Gleichwohl war es Scherchens "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", das in den 1920er Jahren den Nerv der Arbeiterbewegung traf und eine ungeheuer starke Verbreitung fand: in Liederbüchern, Einzeldrucken oder auf Schellackplatten, in verschiedensten Bearbeitungen oder als Zitat in Kunstmusik und Literatur – kein anderes neues Arbeiterlied hatte damals einen vergleichbaren Stellenwert. Seine besondere Funktion zeigt sich darin, dass "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" sowohl von sozialdemokratischer wie von kommunistischer Seite gesungen wurde, sei es als Chorlied im Arbeiter-Sängerbund (Edition C) oder als einfaches "Kampflied", das zu verschiedenen neuen Zusatzstrophen animierte (Edition D). Somit war das, was die politischen Parteien der Arbeiterschaft damals nicht schafften, in Scherchens Lied idealiter aufgehoben: die Einheit der Arbeiterbewegung. Gleichzeitig fand "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes Resonanz und wurde in andere Sprachen, wie Norwegisch (Edition E) und Slovenisch (Klobčar/John 2013), übersetzt. Zudem gab es Übertragungen in Esperanto, das in Kreisen der Arbeiterbewegung damals als Hoffnungsträger des Internationalismus angesehen wurde (Edition F).

IV. Schon vor der Machtübernahme der Nazis 1933 gab es auch im NS-Milieu Umdichtungen von "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", darunter die beiden bekanntesten Gesänge "Brüder in Zechen und Gruben" und "Brüder formiert die Kolonnen". Insgesamt sind acht verschiedene nazistische Liedtexte auf "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" dokumentiert (John 2007). Aber auch mit dem Originaltext (des NS-Gegners und Emigranten Scherchen) wurde das Lied im "Dritten Reich" weiterhin verbreitet. Das propagandistische Kalkül der Nazis bei dieser feindlichen Übernahme zielte darauf, den Parteigängern der sozialistisch orientierten Arbeiterbewegung einen Seitenwechsel in die Reihen des national"sozialistischen" Regimes schmackhaft zu machen. Trotz solcher Indienstnahmen – die es auch bei anderen Liedern der linken Arbeiterbewegung gab – behielt "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" für Antifaschisten seinen freiheitlichen Symbolwert, insbesondere unter den Bedingungen von NS-Haft und Lager. Hier fungierte das Lied für Nazi-Gegner als ein Medium der inneren Selbstbehauptung gegen Entwürdigung und Terror.

V. Diese Doppelgesichtigkeit des Liedes führte dazu, dass es 1945 beim Sieg über den NS-Staat wiederum als ein Ausdruck der Befreiung empfunden und gesungen wurde. Wenig später fungierte es in der sowjetisch besetzten Zone als Element des Gründungsmythos der SED: die ikonographische Etablierung des "Vereinigungshandschlags" von KPD und SPD zur SED nahm 1946 mit dem Liedzitat "In eins nun die Hände" als Motto ihren Anfang (Abb. 1). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war "Brüder zur Sonne zur Freiheit" ein ständiger Begleiter durch die Nachkriegsgeschichte – im geteilten Deutschland wie in Österreich: als musikalisches Symbol für Gewerkschafts- und sozialdemokratische Politik, für DDR-Sozialismus und die Erstarrung des Liedes als staatssozialistische Feiermusik, für die neue Linke im Zuge der Studentenbewegung und die neuen sozialen Bewegungen nach 1968 (Abb. 2 und Abb. 3), aber auch für eine kritische Sicht auf den "real existierenden Sozialismus". Letzteres kam 1979 auch in einer Liedsatire des Musikkabaretts "Die 3 Tornados" zum Ausdruck (Edition G) und die Diskrepanzen zwischen freiheitlichem Anspruch und sozialistischer Realität waren auch für Karikaturisten ein dankbares Motiv (Abb. 4). 1989 hatte "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" seine bislang letzten revolutionären Auftritte: als sarkastische Waffe bei den "Wir sind das Volk"-Demonstrationen, die schließlich zum Ende des DDR-Regimes führten. Als politisches Lied wird "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" inzwischen vielfach als eines von gestern empfunden. Daher wurde es seit den 1970er Jahren auch zunehmend parodiert und vielfach karikiert, wobei Slogans wie "Brüder zur Sonne zur Freizeit" die damit einhergehende, tendenzielle Entpolitisierung veranschaulichen. Politisch zukunftsweisende Konzepte verbanden sich indes mit dem bis in die Gegenwart aktuellen Motto "Schwestern, zur Sonne, zur Gleichheit" (Abb. 5).

ECKHARD JOHN
(April 2013)



Literatur
  • Marija Klobčar, Eckhard John: "Bratje le k soncu" – Zur slowenischen Geschichte von "Brüder zur Sonne zur Freiheit". (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. (in Vorber.)
  • Eckhard John: "Brüder zur Sonne zur Freiheit". Zur Topographie des politischen Liedes im 20. Jahrhundert. In: Good-Bye Memories? Lieder im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts. Hrsg. Barbara Stambolis, Jürgen Reulecke. Essen 2007, S. 51–77.
  • Inge Lammel: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. In: Schlagwörter und Schlachtrufe. Aus zwei Jahrhunderten deutscher Geschichte. Band 1. Leipzig 2002, S. 21–24.
  • Jeanpaul Goergen: "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit". Zur Entstehung einer Arbeiterhymne. In: Das Parlament 1987, Nr. 13 (28. März 1987).
  • Inge Lammel: Das Arbeiterlied. 3. überarb. Aufl. Frankfurt a. M. 1980, S. 112 (Nr. 16) und S. 218.

Weiterführende Literatur
  • Eckhard John: Smelo, tovarišči v nogu (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon.
  • Nicola Hille: "Brüder in eins nun die Hände". Die Inszenierung und Mythenbildung des "Vereinigungshandschlags" im politischen Plakat der SBZ und frühen DDR. In: Mythos No. 2. Politische Mythen. Hrsg. Peter Tepe et al. Würzburg 2006, S. 164–181.
  • Carl Pietzcker: "Hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor!" Psychoanalytische Überlegungen zum unbewußten Anteil von Geschichtsbildern. In: Ideologie nach ihrem "Ende". Gesellschaftskritik zwischen Marxismus und Postmoderne. Opladen 1995, S. 206–244.
  • J. Gippius, P. Schirjajewa: Brüder zur Sonne zur Freiheit. In: Beiträge zur Musikwissenschaft 4 (1962), H. 3/4 (Sonderheft Arbeiterlied), S. 235–244 (der Titel des Aufsatzes ist irreführend: er behandelt nicht Scherchens Lied sondern das russische Vorbild "Smelo tovarišči v nogu").
  • Hermann Scherchen: Rußland 1917 und 1927. In: Deutsche Arbeiter-Sängerzeitung 29 (1928), Nr. 4 (15. April), S. 49f.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: vergleichsweise wenige Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: sehr häufig in Gebrauchsliederbüchern, viele sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: etliche Liedillustrationen und Karikaturen
  • Tondokumente: viele Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Eckhard John: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/brueder_zur_sonne_zur_freiheit/>.


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last modified 14.10.2016 03:10
 

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