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Gott grüß dich, Bruder Straubinger


Das um 1820 entstandene, im 19. Jahrhundert populäre Studentenlied "Gott grüß dich, Bruder Straubinger", das sich über Handwerksburschen lustig macht, ist ein Dokument für das spannungsreiche Verhältnis dieser beiden Gesellschaftsmilieus. Aus diesem Lied ging der Ausdruck "Bruder Straubinger" als Bezeichnung für einen Wandergesellen in die Umgangssprache ein.

I. Das im 19. Jahrhundert verbreitete studentische Scherzlied "Gott grüß dich, Bruder Straubinger" ist ein Indikator für das seinerzeit konfliktreiche Verhältnis zwischen akademischer Jugend und Handwerksgesellen. Ein Handwerksbursche berichtet darin einem Kollegen, dass Studenten ihn verulkt und drangsaliert hätten, weshalb er die Stadt verlasse. Den Text des Liedes schrieb der Arzt und Gelegenheitsdichter Carl Theodor Müller (1796–1873) vermutlich während seiner Studienjahre an der Universität Landshut (1817–1820); erstmals veröffentlicht wurde er 1824 (Edition A) zusammen mit anderen Werken aus seiner Feder (wegen deren teilweise derben Tons erhielt der Autor auch den Beinamen "Saumüller"). Diese "Gedichte, Aufsätze, und Lieder im Geiste Marc. Sturms" – als Vorbild benannt werden damit die 1819 posthum herausgegebenen "Lieder zum Theil in baierischer Mundart" des Augustiners Marcelin Sturm (1760–1812) – erschienen zunächst anonym (Stuttgart 1824), dann unter dem (leicht verschlüsselten) Namen D*. C*. Müller in überarbeiteten Neuauflagen (Stuttgart 1826, 1834), denen sich noch weitere anschlossen (Regensburg 1835, 1843; Rorschach 1853). Seit 1826 wird im Titel zudem die Zielgruppe der Sammlung direkt angesprochen ("jedem lustigen Männer-Zirkel gewidmet").

II. Im populärsten Lied aus Müllers Sammlung erzählt in Ichform ein Schneidergeselle – er stammt (laut Überschrift) aus Brandenburg und ist für einige Zeit in Landshut tätig gewesen (1800–1826 Universitätsstadt) –, dass er von den ständigen Händeln mit Studenten genug habe und deshalb wieder auf Wanderschaft gehe. Der in der ersten Liedzeile angesprochene Kollege meldet sich nur einmal zu Wort (Str. 16) und bekommt ansonsten detailreich einige der Konflikte "mit den Aquademigern" geschildert. Der Schneidergeselle berichtet, von ihnen als "Herr Geisbock" (Str. 4) und "Handwerksschroll" verspottet worden zu sein, ein Student habe seine Pfeife mit Pulver gefüllt und zur Explosion gebracht (Str. 7f.), ein anderer sein Uhrband in den bayerischen Landesfarben weißblaurot zerrissen und die Uhr selbst ihm "ums Maul" gehauen (Str. 9). Ein dritter habe ihm den Inhalt eines Nachttopfs übergeschüttet ("Da stank ich zum krepiren"), als er vor dem Kammerfenster seines Mädchens stand (Str. 5). Sein "Schatz" sei ihm auf offener Straße ausgespannt worden (Str. 4) und möglicherweise nun schwanger (Str. 13). Vater aber von "än Studenten Ginde" (Str. 14) wolle er nicht sein, er hole nun unmittelbar sein Wanderbuch "auf der Pulizeye" (Str. 13) und verlasse die Stadt. Für akademische "Männer-Zirkel" bot ein solcher Liedtext doppelt Erheiterung: Zum einen, weil der besungene Handwerksgeselle hier stets den Kürzeren zieht, zum anderen wegen der mundartlichen Sprechweise und Sprachschnitzer des Liedprotagonisten. Ein Hinweis, auf welche Melodie sich Müller dieses Lied gesungen dachte, findet sich nicht (vgl. V.).

III. Das Incipit des Liedes lautete bei der Erstveröffentlichung "Ey grüß dich Broder Strasburger" (Edition A), in den Publikationen von 1826 und 1834 "Ey grüß dich, Bruder Straubinger". Ob diese Änderung auf den Autor zurückgeht oder auf einem Druckfehler beruht, ist nicht mehr zu klären. Für letzteres spricht, dass die zweite Stelle im Lied, an der der aus Brandenburg stammende Handwerksbursche seinen Kollegen direkt anredet (Str. 10: "Drum sag mir Bruder Strasburger"), unverändert blieb. Es wäre dies nur eine liedgeschichtliche Marginalie, wenn in der Folge nicht ausgerechnet die Nebenfigur des "Bruder Straubinger" Karriere gemacht hätte (vgl. VI.).

IV. Zunächst aber fand Müllers Lied (mit dem "Straubinger"-Incipit) rasche Verbreitung, vor allem in studentischen Kreisen. Dabei reduzierte sich die Zahl der Strophen z. T. deutlich: Tradiert wurden vor allem jene, die die zentralen Konfliktsituationen zwischen dem Handwerksburschen und den "Aquadecimi" (Edition F) behandeln. Beobachten lässt sich außerdem, dass die besungenen Geschehnisse nur selten noch in Landshut verortet werden. Aufzeichnungen aus der mündlichen Praxis nennen als Schauplatz die Universitätsstadt Jena (Edition B) bzw. Halle (Edition E), ein einschlägiges, 1844 erschienenes Liederbuch den Ort "N.N." (Edition F), womit den jeweiligen Nutzern eine konkrete Lokalisierung überlassen wurde. Das Wissen um Herkunft und Urheberschaft des Liedes verlor sich schon in dieser frühen Rezeptionsphase. Der bislang früheste datierbare Beleg für die breite Rezeption des "Bruder Straubinger"-Liedes findet sich in einem handschriftlichen Liederbuch, das ein gewisser Friedrich Briegleb (1812–1865) Ende 1835 in Coburger Festungshaft anlegte, wo er wegen "revolutionärer Umtriebe" einsaß: Er hatte 1832/33 in Jena studiert und war der Burschenschaft "Germania" beigetreten, die "Volkseinheit und Volksfreiheit" forderte. Briegleb rubrizierte das Lied, das er von dort her kannte, aus thematischen Gründen unter die "Handwerksburschenlieder" (Edition B). Das 1837 erschienene "Liederbuch der Tübinger Hochschule" ist nach bisheriger Kenntnis die erste einem studentischen Abnehmerkreis zugedachte Publikation, die das Lied aufnahm (Edition C). Aus dem Mund zweier Studenten zeichnete auch der Volksliedsammler Ludwig Erk das Lied 1840 und in Berlin 1843 auf (Edition E). Wilhelm von Holtei hat das "Straubinger"-Lied in einer textlich stark bearbeiteten Fassung in sein Possenspiel "Dreiunddreißig Minuten in Grüneberg, oder: der halbe Weg" (UA 1836; veröffentlicht 1839) eingebaut, wobei auch hier ein Handwerker darüber Klage führt, dass Studenten ihm in Halle die Liebste ausgespannt hätten (Edition D).

V. Das Lied "Gott grüß dich, Bruder Straubinger" wurde primär auf die gleiche (oder leicht variierte) Melodie wie das Lied "O Tannenbaum" gesungen, dessen zwei Versionen (Liebeslied 1820, Umdichtung zum Weihnachtslied 1824) selbst auf eine Weise des "Mildheimischen Liederbuchs" (1799ff.) zurückgriffen ("Es lebe hoch, es lebe hoch der Zimmermannsgeselle"). Diese für das "Straubinger"-Lied rezeptionsgeschichtlich dominante Melodie (Edition E, Edition F) ist in korrumpierter Form schon 1835 bei Briegleb belegbar (Edition B). Aus der Zeit davor fehlen bislang Melodienachweise. Aufgrund der gegebenen musikalischen Verwandtschaft ist leicht erklärbar, weshalb sich verschiedentlich auch die Angabe findet, das Lied "O Tannenbaum" werde nach der Melodie von "Gott grüß dich, Bruder Straubinger" gesungen (z. B. DVA: E 5159). Falsch ist allerdings die häufiger anzutreffende Annahme, die Tannenbaum-Melodie sei von dem Lied "Gott grüß dich, Bruder Straubinger" übernommen worden. Der früheste Beleg für ein neues Lied, das sich ausdrücklich der "Straubinger"-Weise bediente, ist der 1838 aus Anlass des Stiftungsfestes des Cäcilienvereins Speyer entstandene und dort im gleichen Jahr als Separatdruck erschienene "Festgesang à la 'Bruder Straubinger'" (DVA: Bl 13434). In manchen Liederbüchern werden zu "Gott grüß dich, Bruder Straubinger" auch alternative Melodieangaben gemacht (z. B. "Ich will einst bei Ja und Nein").

VI. Aus dem Incipit des Müllerschen Liedes wurde vermutlich schon in den 1830er Jahren die umgangssprachliche, abfällig akzentuierte Bezeichnung "(Bruder) Straubinger" für einen reisenden Handwerksgesellen abgeleitet (vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch 1957). Friedrich Engels hielt es 1846 in einem Brief an Karl Marx für verfrüht, kommunistische Aufrufe nach Schleswig-Holstein zu senden, "wo nichts wie plattdeutsche Bauernlümmel und zünftige Straubinger herumstrolchen". Im gleichen Jahr nannte er die politischer "Schlafmützigkeit" bezichtigten Anhänger des Sozialutopisten Wilhelm Weitling, eines Schneidergesellen, "ächte Straubinger" und "alternde Knoten", den konkurrierenden Standpunkt der "Grünianer" charakterisierte er als "antiproletarisch, kleinbürgerlich, straubingerisch". Als in politischen Dingen etwas beschränkter Handwerksbursche erscheint die Figur auch in Victor von Scheffels satirischem Gedicht "Was der Bruder Straubinger im Jahr des Heils 1848 für Schicksale gehabt" (Fliegende Blätter 1850). Mit dem Bedeutungsverlust des zünftigen Handwerkerwesens im Zuge der Industrialisierung erhält der Ausdruck "Straubinger" eine weitere Sinnebene: entsprechend benannt werden seit dem späten 19. Jahrhundert auch Landstreicher und Vagabunden. Der Staatsrechtler Carl Schmitt hat nach 1945 in privaten Aufzeichnungen Adolf Hitler, auf dessen Zeit im Männerasyl anspielend, als einen "Bruder Straubinger" bezeichnet.

VII. "Gott grüß dich, Bruder Straubinger" wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Studentenliederbüchern weiter tradiert. In der Erstauflage des "Allgemeinen Deutschen Commersbuches" (Lahr 1858) fehlt es, wird jedoch in einen unmittelbar angefügten Anhang aufgenommen (u.a. 5. Aufl. 1859, Nr. 42; 12. Aufl. 1861, Nr. 89). Bei der Neubearbeitung des "Commersbuches" (25. Aufl. 1882) entfällt das Lied zunächst, um dann unter dem bemerkenswerten Titel "Der Klügere giebt nach" wiederum integriert zu werden (u. a. 91.–95. Aufl. um 1910, Nr. 688). Nach der Wende zum 20. Jahrhundert lässt die Beliebtheit des Liedes deutlich nach. Seine endgültige Eliminierung aus dem studentischen Repertoire war für W. Brinkmann 1934 ein Beleg, dass "die Zeiten, wo der Akademiker mitleidig und spöttisch auf alle Nichtakademiker herabsah, … gottlob vorüber" seien.

VIII. Das Verschwinden alltäglicher Erscheinungen führt häufig zu deren nachträglicher Verklärung. In diesem Kontext ist auch Edmund Eyslers Erfolgsoperette "Bruder Straubinger" (UA Wien 1903) zu sehen, in der ein gewitzter Wanderbursche Hauptfigur ist. Eysler bezieht sich in dessen Auftrittsnummer unmittelbar auf Text und Weise des "Straubinger"-Liedes ("'Gott grüß dich, Bruder Straubinger, / Mich freut, dass ich dich sehe!' / So klingt's von allen Seiten her, / Wohin ich immer gehe."). In der Stadt Straubing erhob man den "Bruder Straubinger" im 20. Jahrhundert zur heimatlichen Identifikationsfigur, die dort beispielsweise nach dem Ersten Weltkrieg einen Notgeldschein zierte (Abb. 1). 1962 errichtete man in Straubing ein Denkmal, das einen Handwerksburschen in biedermeierlicher Wanderkluft darstellt – ein Umstand, auf den Walter Schwarz 1963 in der Überschrift seines liedbezogen Beitrags "Ein Druckfehler erhielt ein Denkmal" (s. dazu III.) anspielte.

TOBIAS WIDMAIER
(Januar 2009)



Literatur
  • Helmut Wagner: Lieder vom "Bruder Straubinger". In: Volksmusik und Heimatidentifikation. Formen und Funktionen populären Liedguts. Dingolfing 1988 (Niederbayerische Blätter für musikalische Volkskunde 10), S. 31–64.
  • Walter Schwarz: Bruder Straubinger – wer ist das? In: Ders.: Der Teufel tanzt. Druckfehler aufgespießt. Hamburg 1964, S. 71–100.
  • Walter Schwarz: Ein Druckfehler erhielt ein Denkmal. In: Der Sprachwart 13 (1963), S. 58–62.
  • Walter Schwarz: "Bruder Straubinger". Eine kritische Untersuchung. In: Der Sprachwart 7 (1957), S. 73–75 u. 86–90.
  • W. Brinkmann: Zur Geschichte volkstümlicher Lieder. Gott grüß' dir, Bruder Straubinger. In: Hamburger Akademische Blätter 15 (1934), S. 3.

Editionen und Referenzwerke
Weiterführende Literatur
  • Werner Ebermeier: Studentenleben vor 200 Jahren. Die Landshuter Jahre der Ludwig-Maximilians-Universität 1800 bis 1826. München 2007 (LMUniversum 5); Ebermeier bemerkt, dass Handwerksburschen zu den "bevorzugten Kontrahenten" der Landshuter Studenten gehörten (S. 49; vgl. auch S. 103–105).
  • Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951. Hrsg. von Eberhard Frhr. von Medem. Berlin 1991 (als "Bruder Straubinger" wird Hitler bezeichnet S. 24, 36, 48, 51, 66).
  • Michael Klügl: Edmund Eysler: Bruder Straubinger. Operette in drei Akten. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 2. München, Zürich 1987, S. 161–163.
  • Karl Marx, Friedrich Engels: Briefwechsel, Mai 1846 bis Dezember 1848. Berlin 1979 (Marx/Engels Gesamtausgabe Abt. 3, 2); die zitierten Briefstellen S. 41, 128 u. 53 (der Ausdruck "Straubinger" ist außerdem belegt S. 36, 51–53, 60, 65–67, 136, 331, 340 u. 351).
  • Artikel "Straubinger". In: Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 10,3. Leipzig 1957, Sp. 960f.
  • Bruno Müller: Dr. Carl Theodor Müller (1796–1873). Amtsphysikus und Volksdichter. In: Der Bayerwald 29 (1931), S. 85–88.
  • [Victor von Scheffel]: Was der Bruder Straubinger im Jahr des Heils 1848 für Schicksale gehabt. In: Fliegende Blätter Bd. 12 (1850), Nr. 286, S. 173f. und ebd., Nr. 287, S. 180f..


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: häufig in Gebrauchsliederbüchern (vor 1900)
  • Bild-Quellen: gelegentlich (z. B. auf Bilderbogen und Notgeldschein)
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Tobias Widmaier: Gott grüß dich, Bruder Straubinger (2009). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/gott_gruess_dich_bruder_straubinger/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 28.09.2016 03:22
 

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