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Wer will nötge Ware kaufen


"Wer will nötge Ware kaufen" wurde im Jahr 1927 von dem Germanisten Alfred Ström in der russlanddeutschen Siedlung "Kolonie Grunau" in der Ukraine aufgezeichnet und ist nur in dieser singulären Fassung belegt (Edition A). Der Text preist in launigem Ton das Warenangebot im Ladengeschäft des örtlichen Konsumvereins mit dem programmatischen Namen "Vorwärts" an.

I. Ström hat in seinen Feldforschungsunterlagen lediglich vermerkt, dass der Text im Jahr 1923 verfasst wurde. Darüber hinaus gibt der Sammler keine Informationen; weder die Gewährsperson noch die Melodie des Liedes sind überliefert. Ebensowenig hat Ström Angaben zum Entstehungszusammenhang des Liedes und die intendierte Aussage des anonymen Autors gemacht. Der Text enthält jedoch einige Indizien, die Ströms Datierung des Entstehungsjahres belegen: beispielsweise die Anspielung auf die Inflation, oder der Hinweis auf die genossenschaftliche Organisationsform und das Warenangebot des Ladengeschäfts, die zeitlich auf das Ende des Kriegskommunismus, die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik durch die Bolschewiki und die allmähliche wirtschaftliche Konsolidierung verweisen. In welchem Rahmen "Wer will nötge Ware kaufen" gesungen wurde, ist hingegen unklar. Seine Überschrift ("Bekanntmachung") lässt zunächst an ein auf der Gasse gesungenes Werbelied in unterhaltsamem Ton denken. Andererseits kann man den Text, angesichts des fast schon parodistischen Duktus, in dem er verfasst ist, auch als ironisches Portrait der neuen sowjetischen Konsumwelt nach der elenden Zeit des Kriegskommunismus deuten. Welche Interpretation richtig ist, lässt sich aufgrund der spärlichen Quellenlage nicht beantworten.

II. Verfasst wurde das Lied in politisch wie wirtschaftlich turbulenten Zeiten. Die Bolschewisten forcierten in der Zeit des Kriegskommunismus, während des russischen Bürgerkriegs, den ökonomischen Umbau des Landes hin zur Abschaffung der Privatwirtschaft und der Marktwirtschaft. Die Folge dieser Politik waren neben anderen Härten die drastische Abwertung der Währung und eine große Hungersnot im Jahr 1921. Nach der Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922 änderte die Regierung zunächst ihren Kurs und ließ marktwirtschaftliche Elemente wie beispielsweise Konsumgenossenschaften wieder zu, um den drohenden ökonomischen Kollaps des Staates zu verhindern. Nun wird – "Vorwärts"! – der Umbau der Gesellschaft, auch mit Hilfe der Konsumvereine, weiter vorangetrieben. Dort gibt es, wie der Liedtext beschreibt, jetzt alle nur erdenklichen Waren zu kaufen: Lebensmittel, Haushaltswaren, Kleidung, Stoffe und Kurzwaren, Schreib- und Räucherwaren; von regionalen Handelszentren wie Charkow herangeschafft oder aus dem Ausland importiert. Im Lied wird ihre hohe Qualität bei zugleich günstigen Preisen beworben.

III. Inhaltlich gewährt uns "Wer will nötge Ware kaufen" einen Einblick in das Angebot eines Einzelhandelsgeschäftes in der Ukraine in der Gründungsphase der Sowjetunion. In den zehn Strophen des Liedes finden sich zudem zahlreiche Bezüge zum Zeitgeschehen und zum kulturhistorischen Kontext. So wird in der zweiten Strophe auf die Inflation angespielt. Ob es sich bei den "Tausend" und "Millionen" um Kopeken oder um Rubel handelt, ließe sich, aufgrund der damals sprunghaft verlaufenden Entwertung der Währung, nur bei tagesgenauer Datierung sagen. Ein weiterer Verweis auf die ökonomische Situation ist die Erwähnung des Kerosins, das damals als Lampenöl verwendet wurde. Es galt Anfang der 1920er Jahre als sogenannte "Defizitware", ein Produkt also, dessen Angebot deutlich geringer ausfiel als die Nachfrage. Hinter der Wendung "Gibt gutes Wetter, gibts Kerosin" verbirgt sich die Tatsache, dass es Lampenöl nur sporadisch und an unvorhersehbaren Tagen zu kaufen gab. Die Erwähnung des "listigen Juden" in der 3. und 4. Strophe, der angesichts der günstigen Ware ins Staunen gerät, ist einerseits Ausdruck der tendenziell antisemitischen Haltung, die die Mehrheit der Bevölkerung in Russland damals verinnerlicht hatte. Zugleich verweist diese Passage, ebenso wie die Betonung der Qualität und des günstigen Preises aller Handelsgüter, auf die Gründungssituation der Konsumgenossenschaften in Russland: die Genossenschaftsbewegung entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem als Reaktion auf die Abhängigkeit der ländlichen Bevölkerung von Einzelhändlern, die ihre Machtposition – der Einzige am Platze zu sein – durchaus auszunutzen wussten und ihre dörfliche Kundschaft mitunter übervorteilten, indem sie Waren minderer Qualität teuer verkauften. "Der Jude" muss hier wohl auch als Sündenbock für unseriöse Einzelhändler diesen Schlags herhalten. Die beiden letzten Verse sind entweder ein Hinweis auf die Grundsätze der Genossenschaft – nämlich keinen Kredit zu geben und nicht anzuschreiben – oder ein Verweis auf den Kriegskommunismus, als Waren entweder unentgeltlich verteilt oder gegen "Bongs" ausgegeben wurden. Ein Hinweis auf die Herkunftsregion der Russlanddeutschen in Grunau sind die Dialektwörter aus dem elsass-lothringischen Raum, die in dem Text verwendet werden: "Kaschne" ist ein Halstuch, "Duchi" sind Tuchwaren.

IV. In "Wer will nötge Ware kaufen" haben zeitgebundene wirtschaftliche und politische Ereignisse und Konstellationen sowie kulturelle Besonderheiten ihren Niederschlag gefunden. Mit seinen mannigfaltigen Anspielungen und Querverweisen ist dieses Lied daher trotz der dürftigen Quellenlage ein wertvolles Zeitzeugnis. Es wirft ein Schlaglicht auf einen Aspekt der Alltagsgeschichte in einem russlanddeutschen Dorf der Ukraine in der Gründungsphase der Sowjetunion.

INGRID BERTLEFF
(Dezember 2008)



Weiterführende Literatur
  • Girsch Cyderowitsch: Aufbau- und Entwicklungsprobleme der verstaatlichten Erdölindustrie Rußlands. Jena: Universitäts-Buchdruckerei Neuenhahn 1932.
  • Michael Ferdinand Follmann: Wörterbuch der deutsch-lothringischen Mundarten. Niederwalluf: Sändig 1971 (Neudruck der Ausgabe von 1909).
  • Ernst Fuckner: Die russische Genossenschaftsbewegung (1865-1921). Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1922.
  • Saul Sapir: Die Konsumgenossenschaften in Russland, ihre Theorie und Praxis. Riga: Buchdruckerei Vards 1928.
  • Vaan F. Totomianz,: Die Konsumvereine in Rußland. München, Leipzig: Von Duncker & Humblot 1922.
  • A. Beythien (Hrsg.): Merck's Warenlexikon für Handel, Industrie und Gewerbe. 8. Auflage. Leipzig: G. A. Gloeckner 1922.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: Einzelbeleg aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: —
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Wer will nötge Ware kaufen (2008). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/wer_will_noetge_ware_kaufen/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 16.09.2013 12:49
 

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