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Mein Deutschland, strecke die Glieder


Das politische Lied "Mein Deutschland, strecke die Glieder" basiert auf einem Gedicht von Georg Herwegh, mit dem er das Scheitern der revolutionären Ideale der 1848er-Bewegung sarkastisch kommentierte. Herwegh schrieb den Text im Dezember 1848 und veröffentlichte ihn im Frühjahr 1849 in verschiedenen Zeitungen. In den 1960er Jahren ist er im Zuge eines neuen Interesses an den demokratischen und revolutionären Traditionen in Deutschland wieder entdeckt und nun auch als gesungenes Lied interpretiert worden.

I. Der Schriftsteller Georg Herwegh (1817–1875) war als sozialistisch engagierter Autor einer der profiliertesten Köpfe in der Zeit des Vormärz. Aufgrund seiner gesellschaftskritischen Publizistik musste er ins Exil gehen und lebte seit 1843 in Paris. Herwegh gehörte zu jenen Intellektuellen, die sich 1848 aktiv an den revolutionären Kämpfen beteiligten: Als Anführer der in Paris gebildeten "Deutschen demokratischen Legion" wollte er die in Süddeutschland kämpfenden Republikaner unterstützen. Seine Freischar wurde jedoch im April 1848 – eine Woche nach Friedrich Heckers Niederlage – im Gefecht bei Niederdossenbach geschlagen. Herweghs radikaldemokratische Position kam auch in seiner kritischen Kommentierung der politischen Ereignisse 1848 zum Ausdruck. Beispielhaft dafür ist sein satirisches Gedicht "Zu Frankfurt an dem Main", das die Skepsis und Distanz Herweghs gegenüber der neu konstituierten Nationalversammlung zum Ausdruck brachte. Angesichts der desillusionierenden politischen Entwicklung im Herbst 1848, des Sieges der gegenrevolutionären Kräfte Anfang November in Wien (s. "Was zieht dort zur Brigittenau") und Anfang Dezember in Preußen (s. "Ausgelitten, ausgerungen"), sowie der Debatten um eine Reichs-Verfassung schrieb Herwegh Ende 1848 sein sarkastisches Gedicht "Mein Deutschland, strecke die Glieder" und veröffentlichte dieses Anfang 1849 sowohl in Deutschland wie im Exil. Erstmals erschien der Text im Februar 1849 in der Kölner Zeitung "Freiheit. Arbeit", dem "Organ des Kölner Arbeitervereins" (Edition A). Im folgenden Monat ist er dann ebenfalls in der "Deutschen Londoner Zeitung" und in der "Neuen Fränkischen Zeitung" (Würzburg) publiziert worden.

II. Herweghs Gedicht "Mein Deutschland, strecke die Glieder" entstand mit Blick auf die politischen Auseinandersetzungen um die erste Verfassung des deutschen Reiches (Paulskirchenverfassung), die von der Frankfurter Nationalversammlung erarbeitet und am 28. März 1849 verkündet wurde. Diese von nationalliberaler Seite angestrebte Installierung einer konstitutionellen Monarchie mit einem (preußischen) Erbkaiser an der Spitze wertete Herwegh als Todesstoß für die freiheitlichen Bestrebungen in Deutschland. Angesichts der unangefochtenen Macht der Aristokratie könne man die revolutionären Hoffnungen begraben. Verantwortlich dafür machte Herwegh pauschal das Frankfurter Parlament, welches er – wie schon in seinem Text "Zu Frankfurt an dem Main" (Juli 1848) – erneut mit bissigem Hohn und Spott überzog. Dabei knüpfte er mit der Metapher des Schlafes unverkennbar an sein 1843 veröffentlichtes "Wiegenlied" ("Deutschland – auf weichem Pfühle / Mach dir den Kopf nicht schwer") und das damit verbundene, ironische Goethe-Zitat ("Schlafe, was willst du mehr?") an und beschrieb Deutschland als ein "schläfriges" Reich, das sich in der Revolution zwar "heiser" geschrien, aber letztlich nicht wesentlich verändert habe. Die Herrschaft der deutschen Aristokratie mit ihren verschiedenen Königen und Duodezfürsten werde bei dieser Verfassung mit einem neu installierten Kaiser lediglich neu modelliert – realiter aber nicht angetastet: "Wir haben auch nicht Einen / Zaunkönig eingebüßt" (Str. 3). Die in Frankfurt versammelten Parlamentarier sieht Herwegh als Hemmschuh der Revolution (Str. 6), mit denen kein freiheitlicher Staat zu machen sei (Str. 3), und kommentiert sarkastisch: Der Deutsche mache "in Güte die Revolution" (Str. 5) und sei damit offenbar rundum zufrieden. Auf der Folie dieses Befundes ("Wir haben alles, was wir brauchen", Str. 7) karikiert Herwegh im Folgenden (Str. 7–14) verschiedenste Ereignisse der zeitgenössischen (Tages-)Politik (s. Anmerkung zu Edition A). Dabei bedient er sich stilistisch etlicher literarischer Anspielungen und Zitate. Neben den erwähnten Bezügen zu eigenen Texten enthält Str. 8 beispielsweise eine weitere Goethe-Persiflage (auf dessen "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn"). Dazu kommen zwei explizite Lied-Zitate, die das Gedicht nach der Exposition in Str. 1/2 sozusagen einrahmen: "O Freiheit die wir meinen" (Str. 3) und "Das Schiff streicht durch die Wellen" (Str. 14).

III. Über die genannten Zeitungsveröffentlichungen im Frühjahr 1849 hinaus ist über die frühe Rezeption des Gedichts bislang nichts Näheres bekannt. Es erschien erst nach Herweghs Tod wieder in seiner Sammlung "Neue Gedichte" (1877), wobei der Text dort um eine Strophe gekürzt worden ist (s. Anmerkung zu Edition A). Seit Beginn des 20. Jahrhunderts fand "Mein Deutschland, strecke die Glieder" Aufnahme in einschlägige Lyrik-Anthologien wie Christian Petzets "Die Blütezeit der deutschen politischen Lyrik von 1840 bis 1850" (München 1903), Elfriede Underbergs "Die Dichtung der ersten deutschen Revolution 1848–1849" (Leipzig 1930) und schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg in Bruno Kaisers richtungsweisende Publikation "Die Achtundvierziger. Ein Lesebuch für unsere Zeit" (Weimar 1952). Als Lied haben Herweghs Verse bis dahin offensichtlich nie eine Rolle gespielt.

IV. Dies änderte sich erst im Zuge der Liedermacher- und Folkbewegung ab den 1960er Jahren. Einer der ersten, die damals Lieder der 1848er-Zeit wieder aufgriff, war der Sänger Peter Rohland, dessen Programm "Lieder deutscher Demokraten" 1967 auch auf Schallplatte erschien. Dabei berücksichtigte Rohland auch Herweghs Text "Mein Deutschland, strecke die Glieder", dessen parodistische Schlaf-Metapher trefflich zum politisch restaurativen Klima der Nach-Adenauer-Zeit passte. Rohland sang den Text auf die bekannte Melodie von Carl Friedrich Zelter zu Goethes Ballade "Es war ein König in Thule". Andere namhafte Interpreten der Szene wie die Zwillinge Hein und Oss Kröher schlossen sich dieser Verfahrensweise an, spielten das Lied in derselben Text-Musik-Kombination 1974 ebenfalls auf Schallplatte ein und nahmen es 1977 gleichermaßen in ihr verbreitetes Liederbuch "Das sind unsere Lieder" auf (Edition B). In den Jahren der sozial-liberalen Koalition gewann Herweghs Text für politisch links engagierte Musiker neue Attraktivität als historisches Spiegelbild für einen viel zu zögerlichen politischen Reformismus, der revolutionäre Ansprüche auf Freiheit und Demokratie verrate. Besonders gern wurde die ironische Zeile "der Deutsche macht in Güte die Revolution" zitiert. Sie avancierte auch zum Titel einer bekannten Sammlung mit Liedern der 1848er-Revolution (Lipping / Grabendorff 1982). Auf Tonträgern war das melancholisch-getragene Lied jedoch vergleichsweise selten vertreten. Nur die Pforzheimer Folkgruppe "Unkraut" nahm es um 1981 nochmals auf. Zwei weitere Einspielungen aus Südbaden kamen erst 1998 – zum 150. Jubiläum der Revolution – hinzu: von der Gruppe "D'Gälfiäßler" und – in neuer Vertonung – von Roland Kroell.

DAVID ROBB
ECKHARD JOHN
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(Oktober 2012)



Editionen und Referenzwerke
  • Underberg 1930, S. 192–194, und S. 294f.
  • Herweghs Werke. Dritter Teil. Neue Gedichte. Hrsg. Hermann Tardel. Berlin etc. [1909], S. 35–37, und S. 194f.

Weiterführende Literatur
  • Georg Herwegh: Gedichte 1835–1848. (Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Band 1). Bearb. von Volker Giel. Bielefeld 2006 (zum "Wiegenlied" S. 130f. und 553–558).
  • Volker Giel: Dichtung und Revolution. Die Lyrik Ferdinand Freiligraths und Georg Herweghs in der Revolution von 1848/49. Ein analytischer Vergleich. In: Grabbe-Jahrbuch 19/20 (2000/2001), S. 324–350.
  • Karl Riha: Georg Herwegh – in rezeptionsgeschichtlicher Sicht. Ein Kapitel politischer Ästhetik [1987]. In: Ders. Kritik, Satire, Parodie. Gesammelte Aufsätze. Opladen 1992, S. 93–107 (zu "Mein Deutschland" S. 184–187). – Siehe auch ders.: Herwegh "Deutschland zum Neujahr 1849". In: Helmut Hartwig, Karl Riha: Politische Ästhetik und Öffentlichkeit. 1848 im Spaltungsprozeß des historischen Bewusstseins. Fernwald 1974, S. 186f.
  • Alexander Lipping, Björn Grabendorff: 1848 – Der Deutsche macht in Güte die Revolution. Texte und Noten. Frankfurt am Main 1982.
  • Georg Herwegh: Gedichte eines Lebendigen. Zweiter Teil. Zürich 1843 ("Wiegenlied": S. 88f.)


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: —
  • Gedruckte Quellen: selten in Gebrauchsliederbüchern (ab 1970er Jahre)
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: selten auf Tonträgern (s. Diskographie )
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
David Robb, Eckhard John: Mein Deutschland, strecke die Glieder (2012). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/mein_deutschland_strecke_die_glieder/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 25.04.2013 11:49
 

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