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In dem dunklen Graschdanka Wald

(Dort unten im Graschdanker Wald)

Die russlanddeutsche Ballade "In dem dunklen Graschdanka Wald" handelt vom Selbstmord eines Liebespaares in der Umgebung von St. Petersburg. Das Lied ist vermutlich Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden und war bis in die 1930er Jahre in den deutschen Siedlungen des Leningrader Kreises weit verbreitet.

I. Über die Entstehung und frühe Geschichte des Liedes vom Liebestod eines jungen Paares im Graschdanker Wald bei St. Petersburg ist bislang nichts Näheres bekannt. Möglicherweise ist es schon in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre, als direkte Reaktion auf das tatsächliche Ereignis, entstanden. Die früheste bislang bekannte Quelle zu dieser Ballade findet sich jedoch erst in einem Liederheft aus dem Jahr 1884 (Edition A). Diese handschriftliche Aufzeichnung aus einem der ältesten deutschen Dörfer, der Kolonie Neu-Saratowka, entspricht im Wesentlichen der Liedfassung, die auch noch in den 1920er Jahren in den deutschen Siedlungen um St. Petersburg verbreitet war.

II. Der Liedtext berichtet vom gemeinsamen Freitod eines Liebespaares namens Karl und Emilia, der sich im August 1855 in einem Wald in der Nähe des Dorfes Graschdanka, unweit von St. Petersburg, abgespielt haben soll. Der Name der Liebenden wird im Lied selbst nicht genannt, hier ist nur von einem "Knab und Mägdelein" die Rede, die sich mit "Pistolen, Blei und Schrot" umbringen, da sie in ihrer Verzweiflung darüber, dass ihre Liebe bei den eigenen Eltern wie auch bei "andre Leut" auf strikte Ablehnung stößt, keinen anderen Ausweg mehr sehen. Die Geschichte von Karl und Emilia war im kollektiven Gedächtnis der russlanddeutschen Bevölkerung um St. Petersburg über lange Zeit präsent, ihr Grab wurde zu einer Art Denkmal, die Erzählungen davon bekamen zunehmend legendenhafte Ausschmückungen, und 1912 wurde sogar eine Straße, die sich in der Nähe des Grabmals befand, nach Karl und Emilia benannt (s. Swetosarowa 2009).

III. Noch in den 1920er Jahren war die Ballade in den russlanddeutschen Dörfern an der Newa wohl bekannt, wie zahlreiche Aufzeichnungen aus jener Zeit zeigen. Am häufigsten findet sich eine vierstrophige Liedfassung, die der ältesten Liedquelle weitgehend entspricht (Edition B). Daneben findet sich noch eine weitere, verschiedentlich variierte Liedfassung, die in einer zusätzlichen Strophe das Einverständnis des Mädchens und eine nähere Beschreibung der Tat zur Sprache bringt (Edition C). Selten sind Varianten, in denen das Mädchen dem Freitod nicht zustimmt (Edition D) und die angestrebte Hochzeit als Grund der elterlichen Ablehnung genannt wird. Wie stark dieses Ereignis im Gedächtnis der Russlanddeutschen fortwirkte, zeigt eine längere Liedfassung, in der mit drei zusätzlichen Strophen die Einzelheiten des Freitods ausgemalt werden und abschließend auf das Grab als beständiges Mahnmal Bezug genommen wird (Edition E). Die Variantenvielfalt in der Liedüberlieferung gilt auch hinsichtlich der musikalischen Seite: Neben der offenbar gebräuchlichen Weise sind noch zwei weitere Melodieversionen zu diesem Text erhalten (Edition F). Das Lied wurde vom russischen Philologen und Liedforscher Viktor Schirmunski und seinen Mitarbeiterinnen in den Jahren 1924-1930 vergleichsweise häufig aufgezeichnet, als Beispiel für die Entstehung und Rezeption einer Ballade aus moderner Zeit.

IV. Die Ballade vom Graschdanka Wald wurde offenbar vorwiegend von Frauen gesungen. In einer Aufzeichnung aus dem Kreis Nowgorod wird beispielsweise eigens erwähnt, dass die Ballade von Mägden aus Neu-Saratowka mitgebracht worden sei. Auch Schirmunskis Gewährspersonen waren praktisch ausschließlich Frauen. Regional hatte das Lied eine begrenzte Verbreitung: es findet sich häufig in den Dörfern des Leningrader Kreises, bisweilen auch im Nowgoroder und Kingisepper Gebiet, nicht jedoch in anderen Siedlungsgebieten der Russlanddeutschen (wie der Wolgaregion, der Ukraine oder im Kaukasus). Welche Reichweite das Lied in den Jahren nach 1930 noch hatte, ist bislang nicht bekannt. Die Erinnerung an Karl und Emilia blieb zumindest durch die nach ihnen benannte Straße präsent, bis sie 1952 in Tosnenskaja Straße umbenannt wurde.

NATALIA SWETOSAROWA
ECKHARD JOHN
(Oktober 2009)



Literatur
  • Natalia Swetosarowa: Ballade und Legenden von Karl und Emilia. Zur Geschichte des Graschdanka-Liedes (Oktober 2009). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. Für das Deutsche Volksliedarchiv hrsg. von Eckhard John. URL: <www.liederlexikon.de/lieder/in_dem_dunklen_graschdanka_wald/liedkommentar.pdf>
  • Larissa Najdič: Deutsche Bauern bei St. Petersburg-Leningrad. Dialekte – Brauchtum – Folklore. Stuttgart 1997, S. 158, 166-168.
  • Viktor Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 37/38 (1927/28), S. 187f., 211, 215.
 

Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: vergleichsweise viele Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: wenig sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: einzelne Tonaufzeichnungen (Phonogrammaufnahmen)
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) und im Puschkinski Dom (IRLI St. Petersburg) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Natalia Swetosarowa, Eckhard John: In dem dunklen Graschdanka Wald (2009). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/in_dem_dunklen_graschdanka_wald/>.


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last modified 12.09.2012 12:38
 

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