Im Frühtau zu Berge
Das seit Mitte der 1920er Jahre populäre Wanderlied "Im Frühtau zu Berge" stammt aus Schweden. Den ursprünglichen Text des Liedes ("Vi gå över daggstänkta berg") schuf der Maler und Dichter Olof Thunman im Jahr 1900 zu einer traditionellen schwedischen Melodie. Der Übersetzer ins Deutsche ist unbekannt. "Im Frühtau zu Berge" wurde durch die Jugendbewegung bekannt und findet sich bis in die Gegenwart vor allem im Repertoire von Jugend- und Wanderliederbüchern.
I. Der schwedische Maler und Dichter Olof Thunman (1879–1944) schrieb im Jahr 1900 zu einer leicht veränderten traditionellen Weise seines Heimatlandes den Text des Liedes "Vi gå över daggstänkta berg". Das Studentenliederbuch "Den Svenska Frihetsvisan" (1908) ist die früheste bekannte Publikation, die Thunmans "Gångsång" (Wanderlied) enthält (Edition A). Das Lied wurde in der Folge in Schweden sehr populär und ist dort auch gegenwärtig noch recht bekannt. 1917 erschien die erste deutsche Fassung des Liedes ("Im Frühtau zu Berge") im 14. Heft einer von Robert Kothe (1869–1944) herausgegebenen Reihe mit Lautenliedern (Edition B). Genannt werden dort weder der Autor des Originaltextes noch der Name des Übersetzers, der Untertitel "Altes schwedisches Studentenlied" verschleierte die tatsächlichen Gegebenheiten. Kothe war Mitbegründer und Mitglied des Münchener Kabaretts "Elf Scharfrichter" (1901–1903) und ging danach lange Jahre als "Sänger zur Laute" auf Konzertreisen, auf denen er Volkslieder sowie eigene Lieder im Volkston präsentierte. Unklar ist, auf welchem Weg "Im Frühtau zu Berge" in Kothes Repertoire kam und wer den Liedtext aus dem Schwedischen übersetzt hat.
II. Die erste deutsche Fassung von Olof Thunmans "Vi gå över daggstänkta berg" (ältere Schreibweise: "Vi gå öfver daggstänkta berg") lehnt sich relativ eng an die Vorlage an. Das vom Geist der Jugendbewegung geprägte Lied besingt bildreich die Erfahrungen und Erlebnisse gemeinschaftlichen Wanderns, beginnend mit dem Aufbruch am frühen Morgen. Zugleich mokiert sich das Lied über die "alten und sehr klugen Leut", die für solche Unternehmungen in freier Natur kein Verständnis aufbringen, und fordert alle, die mit Sorgen beladen sind, dazu auf, mit "auf die Höhen" zu kommen, um dort "den Sonnenschein zu fangen" (Edition B, Str. 1–3). Ziel des Wanderns ist "Wunderland", das Reich des Vogels Phönix "mit seinen Märchenhallen aus Rubinen und Kristallen" (Str. 4). In der von Kothe präsentierten Textgestalt wurde das Lied von einigen Liederbüchern der frühen 1920er Jahre aufgegriffen (vgl. Anmerkungen zu Edition B).
III. Eine zweite deutsche Fassung von "Im Frühtau zu Berge" erschien 1924 in den von Walther Hensel herausgegebenen "Finkensteiner Blättern" (Edition C). Der Deutschböhme Hensel (1887–1956), führendes Mitglied des Wandervogels, sah im Singen von Volksliedern einen Weg zu einer nationalkulturellen Erneuerung, die angesichts der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg in seinen Augen nottat. Eine Reihe von traditionellen Liedern hat Hensel aufgegriffen, bearbeitet und mit publizistischer Unterstützung des 1923 gegründeten Bärenreiter-Verlages wieder dem aktiven Singrepertoire zugeführt (z. B. "Auf, du junger Wandersmann"). Im Fall von "Im Frühtau zu Berge" diente Hensel die bereits vorliegende Übersetzung (Edition B) als Grundlage einer textlichen Überarbeitung, deren substantiellster Eingriff die Streichung der "Wunderland"-Strophe war. Seine dreistrophige Fassung von "Im Frühtau zu Berge" setzte sich als (urheberrechtlich geschützte) Standardversion des Liedes in der Folge breit durch. Dass viele Liederbücher ihn dabei als Übersetzer nennen (oder dies suggerieren), erweist sich bei Lichte betrachtet allerdings als unzutreffend.
IV. Seit Mitte der 1920er Jahre findet sich das Wanderlied "Im Frühtau zu Berge" häufig in Gebrauchsliederbüchern, insbesondere in solchen für jugendliche Zielgruppen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde es etwa in Liedersammlungen für die Hitlerjugend (HJ) und den Bund Deutscher Mädel (BDM) aufgenommen. Auch nach 1945 erfuhr "Im Frühtau zu Berge" eine starke Rezeption, sowohl in Liederbüchern wie auf Tonträgern. Bemerkenswert ist, dass das populärste Liederbuch der Nachkriegszeit, "Die Mundorgel", "Im Frühtau zu Berge" zunächst in der Textfassung Hensels abdruckte, diese aber in den Auflagen ab 1968 durch eine neuerliche Bearbeitung von Lieselotte Holzmeister (1921–1994) ersetzte (Edition D). Ausdruck der breiten Bekanntheit des Liedes sind auch einige Parodien. 1967 etwa veröffentlichte Dieter Höss ein "Millionärs-Lied" mit dem Incipit "Beim Frühstück am Morgen sie sehn, fallera, / wie schlecht ihre Aktien wieder stehn, fallera" (Edition E). Der Komiker und Sänger Otto (Otto Waalkes) gab in Konzerten "Im Frühtau zu Berge" im Stile unterschiedlicher Künstler (z. B. Louis Armstrong, Udo Lindenberg) und Musikrichtungen (Bluegrass, Funk) zum Besten (LP "Ottocolor", 1978). Eine weitere Parodie ("Im Frühstau bei Herne") findet sich auf der LP "Ervolkslieder" (1983) des Blödelbarden Gottlieb Wendehals.
TOBIAS WIDMAIER
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(September 2011)
Quellenübersicht
- Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
- Gedruckte Quellen: vereinzelt auf Flugschriften, überaus häufig in Gebrauchsliederbüchern
- Bild-Quellen: —
- Tondokumente: sehr viele Tonträger
Zitiervorschlag
Tobias Widmaier: Im Frühtau zu Berge (2011). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/im_fruehtau_zu_berge/>.
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