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Ausgelitten, ausgerungen

(Zum oktroyierenden 5. Dezember 1848)

Das politische Ereignislied "Ausgelitten, ausgerungen" hat August Heinrich Hoffmann von Fallersleben im Dezember 1848 geschrieben, als Reaktion auf die kurz zuvor vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. erlassene Verfassung. Es ist eine Satire über die Bereitwilligkeit des Bürgertums, die Errungenschaften der Revolution zugunsten einer konservativen Gesellschaftsordnung preiszugeben. Hoffmann hat ihr die Melodie "Guter Mond, du gehst so stille" zugrunde gelegt. In den 1960er Jahren wurde das Lied durch den Sänger Peter Rohland wieder aufgegriffen und findet seitdem im Kontext der Erinnerung an Lieder der Revolution 1848/49 gelegentlich Berücksichtigung.

I. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874), der als Verfasser des "Liedes der Deutschen" (1841) bekannte Germanist und Dichter, schrieb den Text "Ausgelitten, ausgerungen" als unmittelbare Reaktion auf die vom preußischen König Anfang Dezember 1848 verordnete Auflösung der preußischen Nationalversammlung und die gleichzeitig neu verkündete Verfassung. Mit dieser staatsstreichartigen Aktion hatten die gegenrevolutionären Kräfte in Preußen weitgehend gesiegt. Zugleich war die neue Verfassung ein Verständigungsangebot an die gemäßigten Reformerwartungen des liberalen Bürgertums. Der konservative Schwenk in Preußen betraf Hoffmanns Lebensumstände unmittelbar: er lebte seit Herbst 1848 in Warteposition in Berlin. Der national-liberale Dichter war 1842 wegen seiner Gedichtsammlung "Unpolitische Lieder" (1840/41), in der er gegen den Absolutismus und die Herrschaft der Fürsten andichtete und für ein demokratisches, freies Bürgertum eintrat, pensionslos seiner Professur in Breslau enthoben worden und hatte ein Jahr später zudem die preußische Staatsbürgerschaft verloren. Danach musste er häufig den Wohnsitz wechseln, war ständig unter polizeilicher Beobachtung, reiste durch die Lande, bis er sich infolge der preußischen Generalamnestie (20. März 1848) Hoffnungen auf eine Rehabilitierung machte. Ab Oktober 1848 erhielt der ehemalige Professor vom preußischen Staat ein "Wartegeld". Wenig später nur, am 5. Dezember 1848, oktroyierte Friedrich Wilhelm IV. die besagte neue preußische Verfassung. Schon am nächsten Tag schrieb Hoffmann seine Replik "Ausgelitten, ausgerungen" und veröffentlichte sie noch in der gleichen Woche in der flugschriftenartigen Broschüre "Zwölf Zeitlieder" (Edition A). Am 12. Dezember 1848 wurde ihm aufgrund des Belagerungszustands von Berlin erneut ein Ausweisungsbeschluss zugestellt: Danach musste Hoffmann die Stadt "bei Vermeidung der Verhaftung" umgehend verlassen.

II. Das Lied "Ausgelitten, ausgerungen" artikuliert übertriebene Erleichterung über das "Verklingen" des "deutschen Freiheitsmärz" und lautstarke Freude über die wieder eingeführte "Ordnung", welche durch Orden, Throne, Gottesgnadentum und Bierhaus gekennzeichnet wird. Dabei setzt der Autor eine augenfällig überzogene Lobhudelei als ironisierendes Stilmittel ein, mit dem er die politische Restauration sarkastisch kommentiert. Insbesondere karikiert Hoffmann damit jene bürgerlich-konservativen Kreise, die vom Freiheitsgeist der Revolution genauso wenig wissen wollen wie von deren "Barrikaden" und "Bürgerwehr". Sein satirischer Ansatz wird durch literarische Anspielungen verstärkt, besonders pointiert gleich durch die Anfangsworte "Ausgelitten, ausgerungen": Hoffmann von Fallersleben zitiert hier das seinerzeit äußerst bekannte Gedicht "Lotte bey Werthers Grab", eine Wertheriade von Carl Ernst Freiherr von Reitzenstein (1755), die mit der Wendung "Ausgelitten hast du – ausgerungen" beginnt. Wie Werther in diesem Gedicht von Lotte als bemitleidenswertes Opfer beklagt wird, so bemitleidet Hoffmann von Fallerslebens Parodie das deutsche Bürgertum als ein Opfer, das gerade eine Art Albtraum – die Revolution – durchgemacht habe. Die Wahl der damals vor allem als Leierkastenlied bekannten Weise "Guter Mond, du gehst so stille" als melodische Grundlage flankiert die Ironie des Textes und bringt zusätzlich die Metapher des schlafenden Volkes, das von keiner Revolution gestört werden will, mit ins Bild – ähnlich wie dies auch Georg Herwegh in seinem Text "Mein Deutschland strecke die Glieder" thematisiert. In der zweiten Auflage der "Zeitlieder" verschärfte Hoffmann von Fallersleben seine politische Kritik durch ein ergänztes Bibelzitat (Daniel 11, 36), das dem Liedtext als Motto vorangestellt ist: "Und der König wird thun was Er will".

III. Der sarkastische Ton von "Ausgelitten, ausgerungen" ist typisch für viele Gedichte in Hoffmanns "Zwölf Zeitliedern", die alle als Kontrafakturen bekannter Popularlieder angelegt waren. In diesen Texten wird der Untertanengeist der deutschen Bürger, zumal der Bildungsbürger, mit Spott überzogen. Das ist insofern bemerkenswert, als Hoffmann – der "fruchtbarste aller Lyriker des Vormärz" (Bruno Kaiser) – als Autor zunächst nicht direkt auf die dramatischen Ereignisse der Revolution reagiert hatte. Sein Schweigen versuchte er mit dem am 8. September 1848 verfassten (aber zu Lebzeiten nicht veröffentlichten) Gedicht "Zur Rechtfertigung" zu erläutern: "Was soll ich tun? Was soll ich lassen? / Soll ich für Freiheit ziehn zum Strauß? / [...] Gerufen hab' ich lange Jahre / Dasselbe Wort in jedes Ohr. / Ich ward verfolgt für meine Ware, / Und alle Welt rief: welch ein Tor!" (Ges. Werke Bd. 5). Diese desillusionierte Grundhaltung durchdringt auch seine sarkastische Kritik in "Ausgelitten, ausgerungen", andererseits meldete er sich mit dieser politischen Stellungnahme im Dezember 1848 unmittelbar zu Wort. Möglicherweise war die Hinrichtung von Robert Blum im November 1848 ein Grund für diese Wende – auch wenn Hoffmann sich zum Tod des mit ihm befreundeten Parlamentariers nicht äußerte. Vielleicht wollte er der damaligen Flut an Robert Blum-Gedichten (s. Was zieht dort zur Brigittenau ) nicht weitere Verse hinzufügen. Auf die gegenrevolutionäre Staatsaktion in Preußen Anfang Dezember reagierte er indes mit offener Kritik. Hoffmann vertrieb seine "Zeitlieder" vorwiegend selbst. Er hatte bei seinen Reisen vielfach Gelegenheit, die Exemplare bei Auftritten und Lesungen direkt zu verkaufen. Der flugschriftenartige Druck kam offenbar gut an: 1849 wurde bereits eine zweite Auflage der "Zwölf Zeitlieder" gedruckt (Edition A); insgesamt veräußerte der Autor davon 2900 Exemplare (Schuster 2009). Im gleichen Jahr war jedoch – mit der endgültigen Niederschlagung der ersten deutschen Revolution – auch die Zeit solcher "Zeitlieder" abgelaufen und "Ausgelitten, ausgerungen" spielte für lange Zeit keine weitere Rolle.

IV. Erst im 20. Jahrhundert wird das Lied wieder vereinzelt aufgegriffen. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik erschien eine Kurzversion in der Zeitschrift "Die Weltbühne": Der Text ist eine Montage der ursprünglich ersten und letzten Strophe, die zwischen einem Kommentar zum Skandal um den Stahlkonzern Becker und einer antimilitaristischen Satire platziert wurde (Edition B). Mit dem Titel "Zu dieser Revolution" dienten die Verse nunmehr dazu, die Versäumnisse der Revolution 1918 und die brutale Niederschlagung der verschiedenen linken Arbeiteraufstände zwischen 1919 und 1923 durch die SPD-geführte Reichsregierung kritisch zu kommentieren. Wenn dabei vom "Freiheitsmärz" die Rede war, dann erinnerte das 1924 unmittelbar an den Märzaufstand 1920 im Ruhrgebiet und an die Märzkämpfe 1921 in Mitteldeutschland. Die historische Parallelisierung zur Revolution 1848 und der Rückgriff auf einen Text von Hoffmann von Fallersleben war damals umso verlockender, als sein "Deutschland, Deutschland über alles" erst 1922 durch den (sozialdemokratischen) Reichspräsidenten Friedrich Ebert zur deutschen Nationalhymne erklärt worden war. Dass just deren Autor Hoffmann von Fallersleben wiederum die antirevolutionäre Haltung 1848 beklagte, dürfte aus radikaldemokratischer Sicht – wie sie "Weltbühne"-Herausgeber Siegfried Jacobsohn und sein enger Mitarbeiter Kurt Tucholsky vertraten – ein besonderes Schmankerl gewesen sein. An die Revolution 1848 wurde in den 1920er Jahren wieder häufiger erinnert und so fand schließlich auch Hoffmanns Lied "Ausgelitten, ausgerungen" Eingang in Elfriede Underbergs Anthologie "Die Dichtung der ersten deutschen Revolution 1848-1849" (Leipzig 1930).

V. In den 1960er Jahren griff der Sänger Peter Rohland (1933–1966) das Lied wieder auf. "Ausgelitten, ausgerungen" war Teil seines 1848er Programms, das er erstmals 1965 auf dem Burg Waldeck Festival präsentierte. 1967 erschienen seine 1848er-Lieder auch auf Langspielplatte, wobei Rohland "Ausgelitten, ausgerungen" wie von Hoffmann intendiert auf die Melodie von "Guter Mond du gehst so stille" sang. Die Berücksichtigung dieses Liedes passte zu einer Liedauswahl, die Kritik an politischem Opportunismus, Passivität und Anpassung auch in Liedern wie "Wohlgeboren", "Der gute Untertan" und "Mein Deutschland, strecke die Glieder" artikulierte. Solche Themen fanden in der von Adenauer und Wirtschaftswunder geprägten Zeit besondere Resonanz unter jungen Liedermachern: Sie brachten das damalige Lebensgefühl von politischer und kultureller Stagnation trefflich zum Ausdruck. Es war somit auch eine enorm hintersinnige Referenz, dass der Liedermacher Walter Moßmann 1976 beim Gedenkkonzert für den früh verstorbenen Peter Rohland das Lied "Ausgelitten, ausgerungen" in einer aktualisierten Bearbeitung vortrug: Erneut stand man im Geiste an einem Grab, diesmal wurde nicht Werther beklagt, sondern mit Rohland die erste Lichtgestalt bündischer Sänger nach 1945 und das Vorbild späterer Liedermacher. Moßmann knüpfte an die politische Ebene von Rohlands Wirken an, an seine 48er-Lieder, beließ es aber nicht bei deren historischer Gestalt, sondern verknüpfte diese mit seinem Konzept der politisch engagierten Aktualisierung (Edition C). In diesem Sinne bearbeitete und ergänzte Moßmann den Fallersleben-Text mit eigenen Strophen, wobei er eine Parallelisierung zur politischen Entwicklung nach 1968 zog: Was früher das feudale Gottesgnadentum war, mutierte nun zu "Vater Staat von Geldes Gnaden", und dieser "rächt sich" nach dem Schock der Studentenbewegung an den revolutionären Freigeistern "mit Zensur und Berufsverbot". Moßmanns subtile Bezugnahmen auf Hoffmanns Text (und somit auf das Lied, das Rohland sang) zeigt sich auch in seiner Reprise des Bibelbezugs: War es bei Hoffmann das resignierte "Und der König wird thun was Er will", welches mottogebend zu Beginn stand, so setzte Moßmann auf das biblische Vorbild des erfolgreichen Kampfes von David gegen Goliath und dieses wiederum ans Ende seines Liedes. Hatte Hoffmann beobachtende "Zeitlieder" verfasst, so nannte Moßmann sein Konzept des politisch aktiven Engagements "Flugblattlieder" und exemplifizierte dieses im Gedenken an Peter Rohland anhand eines Liedes, das jener einst gesungen hatte. Die neue Version von "Ausgelitten, ausgerungen" blieb jedoch eine spezielle, persönliche Referenz an Rohland. Moßmann hat sie nicht in sein allgemeines Repertoire übernommen, das Lied erschien weder auf seinen Schallplatten, noch in seinen Textsammlungen. Dies korrespondierte der Randstellung, die Hoffmann von Fallerslebens "Ausgelitten, ausgerungen" in jenen Jahren der Wiederentdeckung von Liedern der Revolution 1848 aufs Ganze gesehen hatte. Nur vereinzelt fand das Lied Aufnahme in Liederbücher der Folk- und Liedermacherszene (Edition D) oder auf Tonträgern.

DAVID ROBB
ECKHARD JOHN
Quellenrecherche: Johanna Ziemann
(September 2011)



Editionen und Referenzwerke
  • Underberg 1930, S. 191f. und 293f.
  • Hoffmann von Fallersleben: Gesammelte Werke. Hrsg. von Heinrich Gerstenberg. Band 5: Zeit-Gedichte. Berlin 1891, S. 74f. und S. 343; sowie ebd. S. 122: "Zur Rechtfertigung".

Weiterführende Literatur
  • Bernd Ture von zur Mühlen: Hoffmann von Fallersleben. Biographie. Göttingen 2010.
  • Kurt G. P. Schuster: Hoffmann von Fallersleben – ökonomisch betrachtet. In: Hoffmann von Fallersleben. Internationales Symposion Corvey / Höxter 2008. Hrsg. Norbert Otto Eke et al. Bielefeld 2009, S. 15–38 (zu den "Zeitliedern" S. 39).
  • Karin Vorderstemann: "Ausgelitten hast du – ausgerungen ..." Lyrische Wertheriaden im 18. und 19. Jahrhundert. Heidelberg 2007 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 242).
  • Bruno Kaiser: Die Achtundvierziger. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Weimar 1952 (Zitat, S. 158).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: —
  • Gedruckte Quellen: sehr selten in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: selten auf Tonträger, s. Diskographie
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
David Robb, Eckhard John: Ausgelitten, ausgerungen (2011). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/ausgelitten_ausgerungen/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 16.10.2012 11:30
 

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