B. Selbst der Kaiser hat's verdorben
(Fragment Wolgaregion um 1928/1974)
Text: anonym
1. | Selbst der Kaiser hat's verdorben, | |
er mit seinem ganzen Heer1. | ||
Darum ist er auch verworfen, | ||
und das Alte gilt nix mehr! | ||
2. | Alle, die am höchsten waren, | |
sind auf einmal hingericht't2 , | ||
und der Kaiser Nikolaschke | ||
kommt nicht mehr ans Tageslicht3. |
Victor Klein: Unversiegbarer Born. Vom Wesen des Volksliedes der Sowjetdeutschen. Alma-Ata: Verlag Kasachstan 1974, S. 55.
DVA: V 1/8965
Dort folgende Anmerkungen in den Fußnoten:
1 Hier: seiner Regierung, seinem Anhang.
2 Hier: verjagt, abgesetzt, entmachtet.
3 Aufgeschrieben von Prof. Dr. Georg Dinges. Engelser Heimatmuseum.
Editorische Anmerkung:
Victor Kleins Quelle ist eine Textaufzeichnung aus der wolgadeutschen Liedsammlung des Forscherpaares Georg (1891–1932) und Emma Dinges, die heute in der Engelser Abteilung des Staatsarchivs Ssaratow lagert. Die Liedtexte wurden in den Jahren 1928/29 gesammelt. Klein zitiert diesen Beleg in seiner Publikation über Lieder der Russlanddeutschen, die 1974 in der Sowjetunion erschienen ist. Die beiden Strophen sind weitgehend identisch mit den letzten beiden Strophen von Edition A. Eingebettet ist dieses Zitat in eine Textpassage, in der Klein die "Große Sozialistische Oktoberrevolution" und ihre positiven Auswirkungen für die Russlanddeutschen preist, wobei er rhetorisch und inhaltlich vollkommen der sowjetischen Historiographie folgt (s. z. B. seine zweite Fußnote, in der Hinrichtungen relativiert werden zu einer bloßen Amtsenthebung). Unklar bleibt, ob schon die Aufzeichnung von Georg und Emma Dinges fragmentarisch war, oder ob Klein den Text nur auszugsweise wiedergibt – sei es als zensierende Maßnahme oder als verdeckte Anspielung auf die Übertragbarkeit der Geschehnisse auf die Ära Stalin und die Sowjetunion. Der Ausgangspunkt des Liedes – die Vertreibung der Russlanddeutschen – kommt in diesem Bruchstück jedenfalls nicht vor.
last modified
01.09.2011 08:46