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Ach Russland, armes Russland


"Ach Russland, armes Russland" ist ein sarkastisch formuliertes russlanddeutsches Spottlied auf die russische Regierung aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Mehrere bemerkenswerte Umdichtungen sind aus der Periode von Revolution, Kriegskommunismus und Bürgerkrieg überliefert. Verbreitet war dieses Lied in verschiedenen russlanddeutschen Siedlungsgebieten: in der Ukraine, der Wolgaregion und ebenfalls unter wolgadeutschen Auswanderern in Argentinien. Die meisten bekannten Belege wurden um 1930 aufgezeichnet und es ist bislang nicht bekannt, wie "Ach Russland, armes Russland" von späteren Generationen rezipiert worden ist.

I. Verfasst wurde "Ach Russland, armes Russland" offenbar 1917 von einem anonym gebliebenen russlanddeutschen Autor. Alle bislang bekannten Belege von "Ach Russland, armes Russland" stammen aus der Ukraine sowie aus der Wolgaregion (bzw. von wolgadeutschen Auswanderern in Argentinien). Erstmals aufgezeichnet wurde der Liedtext im Sommer 1926 in der russlanddeutschen Siedlung Rybalsk (bei Jekaterinoslaw/ Dnjepropetrowsk, Ukraine) von dem Germanisten und Philologen Viktor Schirmunski (Edition A). In einer Publikation Schirmunskis findet sich der Hinweis, dass dieses Lied im selben Zeitraum auch in der Wolgaregion verbreitet war (Schirmunski 1927/28, S. 203). Dort sind auch drei bemerkenswerte Umdichtungen aus der Wolgaregion belegt: aus der Zeit der russischen Revolution (1917) stammt eine Version des Liedes, die noch 1937 unter wolgadeutschen Emigranten in Argentinien kursierte (Edition B); eine weitere Textvariante ist aus der Periode des Kriegskommunismus überliefert: verfasst um 1918/19 wurde der Liedtext im Sommer 1931 von einem Mitarbeiter Viktor Schirmunskis in der Kolonie Stahl aufgezeichnet (Edition D); während des Bürgerkriegs, um 1920/21, entstand eine weitere Umdichtung, die auf aktuelle Ereignisse in der Wolgaregion Bezug nimmt. 1929 von der Volkskundlerin Emma Dinges in der Siedlung Blumenfeld aufgezeichnet, ist dies außerdem der bislang einzige Beleg, der auch eine Melodienotation enthält (Edition C). Vermutlich war diese Melodie jedoch nur eine von mehreren, die dem Lied von jeweils anderen Vortragenden in anderen Siedlungen zugrunde gelegt wurde.

II. Die ursprüngliche Fassung von "Ach Russland, armes Russland" ist eine bitterböse Replik auf das Handeln der russischen Regierung während des Ersten Weltkriegs: Der Unmut und Ärger der Russlanddeutschen über die Restriktionen des zaristischen Regimes, ihr Überdruss und ihre Verzweiflung angesichts der Zumutungen des Krieges, sind in sarkastisch formulierte Verse gefasst. Das Lied schließt mit dem Wunsch, Russland möge den Krieg bald beenden und die Menschen wieder in ein ziviles Leben entlassen. Die überlieferten Umdichtungen sind allesamt in den Jahren zwischen der Oktoberrevolution und der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik 1921 entstanden und kommentieren aus spezifisch russlanddeutscher Perspektive konkrete Ereignisse während dieser Periode: die Freude über die Abdankung des Zaren Nikolaus II., die angesichts neuer Zumutungen und Ungerechtigkeiten jedoch bald in Ernüchterung umschlug (Edition B, Str. 8–9); die rücksichts- und maßlose Requirierung von Lebensmitteln und Vieh sowie die Eintreibung von Kontributionen von wohlhabenden Bauern nach der Machtergreifung der Bolschewiki (Edition D), die letzten Endes in eine Hungersnot mündete; sowie der sogenannte "Aufstand der hungernden Bauern" um den Jahreswechsel 1920/21 unter dem Kosakenführer Wakulin (Edition C, Str. 2–4).

III. "Ach Russland, armes Russland" war seit seiner Entstehung um 1917 bis in die beginnenden 1930er Jahre in russlanddeutschen Siedlungen der Ukraine und der Wolgaregion ein bekanntes und offenbar recht beliebtes Lied, das in handschriftliche Liederbücher Eingang fand – und das vor allem immer wieder auf aktuelle Geschehnisse hin angepasst wurde. Die bislang bekannten Umdichtungen sind alle relativ kurze Zeit, nachdem das Lied verfasst wurde, entstanden, was zudem darauf hindeutet, dass sich "Ach Russland, armes Russland" nach seiner Entstehung rasch verbreitet hat. Wie die Rezeption des Liedes ab den 1930er Jahren verlief, wissen wir aufgrund der dürren Quellenlage nicht: Jüngere Liedbelege sind bislang nicht bekannt.

INGRID BERTLEFF
(September 2010)



Weiterführende Literatur
  • Detlef Brandes: Liquidationsgesetze, Revolution und Bürgerkrieg. In: Gerd Stricker (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Berlin: Siedler 1997, S. 131–151.
  • Viktor Schirmunski: Das kolonistische Lied in Rußland. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 37/38 (1927/28), S. 182-215.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: wenige Belege aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: wenige Belege aus mündlicher Überlieferung
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Ach Russland, armes Russland (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/ach_russland_armes_russland/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 07.04.2016 05:31
 

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