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Es steht ein Baum im Odenwald


Das von Auguste Pattberg verfasste "Wunderhorn"-Lied "Es steht ein Baum im Odenwald" besingt eine zerbrochene Liebe. Dem 1808 erschienenen Text wurde 1810 eine Melodie Johann Friedrich Reichardts zugewiesen. Im 19. Jahrhundert war das Lied sehr populär. Seit Mitte der 1960er Jahre findet es sich nur noch vereinzelt in Gebrauchsliederbüchern.

I. Zu den Liedeinsendungen, die die Herausgeber der romantischen Volkslied-Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" (3 Bde., Heidelberg 1806–08), Achim von Arnim und Clemens Brentano, auf ihre entsprechenden Aufrufe hin erhielten, gehörte auch "Es steht ein Baum im Odenwald". Einsenderin war die nahe Heidelberg lebende Dichterin und Sagensammlerin Auguste Pattberg (1769–1850). Alle Indizien sprechen dafür, dass sie den Liedtext unter Verwendung volkstümlicher Motive selbst verfasst hat (s. Rölleke 1978). Er wurde unverändert in den 3. "Wunderhorn"-Band übernommen (Edition A). Nur wenig später wies ihm Johan Nikolas Böhl ("Vier und zwanzig Alte deutsche Lieder aus dem Wunderhorn mit bekannten meist älteren Weisen beym Klavier zu singen", Heidelberg 1810) die – leicht modifizierte – Melodie des Herbstliedes "Nicht lobenswürdig ist der Mann" von Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) zu (Edition B), das zuerst 1781 in dessen "Liedern für Kinder aus Campes Kinderbibliothek" erschienen und anschließend in das mehrfach aufgelegte "Mildheimische Liederbuch" übernommen worden war.

II. Lyrisches Ich des Liedes ist ein junger Mann (wohl ein Handwerksbursche), der daran zurückdenkt, mit seinem "Schatz" viele Male zu einem bestimmten Baum im Odenwald gegangen zu sein. Auf ihm habe ein Vogel gesessen, der "gar wunderschön" pfiff, und sie hätten ihm gelauscht und zugeschaut. Die Stunden mit ihr unter jenem Baum kommen dem jungen Mann inzwischen aber wie ein Traum vor (dass die zwei dort nicht bloß ornithologische Studien trieben, ist zwischen den Zeilen angedeutet). Als er nach längerer Zeit (nach seiner Gesellenwanderung?) wieder an den Ort im Odenwald zurückkehrt, muss er feststellen, dass sein "Schätzel" einen andren Liebsten hat. In der Schlussstrophe des Liedes bemerkt der junge Mann, sich mittlerweile weit weg vom Odenwald in der Schweiz aufzuhalten, wo Schnee liegt und große Kälte herrscht – ein Spiegel seiner eigenen Gefühlslage: "Mein Herz es mir zerreißt."

III. Durch Gustav Reichardt (1797–1884) erhielt die Melodie, die "Es steht ein Baum im Odenwald" 1810 zugewiesen worden war, 1830 noch einmal eine Umbildung ("Volks-Lieder" op. 9, Nr. 3; Edition C); nach ihr wird das Lied bis heute allgemein gesungen. Reichardt, 1819 Mitbegründer der jüngeren Berliner Liedertafel, machte aus "Es steht ein Baum im Odenwald" ein vierstimmiges Gesellschaftslied (s. weiterführend Kommentar zu Und die Würzburger Glöckli). Lieder im Volkston waren in bürgerlichen Zirkeln seinerzeit sehr populär; auch in Künstlerkreisen pflegte man solche zu singen, wie das von Franz Kugler und Robert Reinick herausgegebene "Liederbuch für deutsche Künstler" (Berlin 1833) zeigt, das "Es steht ein Baum im Odenwald" mit der Weise Gustav Reichardts enthält (Edition D). In der weiteren Folge fand das Lied rasche Verbreitung. Unter den Liederbüchern des 19. Jahrhunderts, die "Es steht ein Baum im Odenwald" enthalten, sind auffällig viele studentische Kommersbücher.

IV. Im frühen 20. Jahrhundert fand "Es steht ein Baum im Odenwald" Eingang ins Repertoire der Wandervögel. Hans Breuer nahm das Lied – sicherlich auch wegen dessen regionalen Bezugs – in seinen zuerst 1909 als Heidelberger Student herausgegebenen "Zupfgeigenhansl" auf (Edition E), der viele Auflagen erlebte und zum Vorbild für weitere Liederbücher der Wandervogel- und Jugendbewegung wurde. In Liederbüchern der Jahre 1933–1945 ist "Es steht ein Baum im Odenwald" kaum belegt. Ein letzter Rezeptionshöhepunkt des Liedes liegt zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und den frühen 1960er Jahren. Als regionales Heimatlied spielt "Es steht ein Baum im Odenwald" immer noch eine gewisse Rolle. Einige Orte im Odenwald (z. B. Airlenbach, Kimbach) nehmen für sich in Anspruch, dass der im Lied besungene Baum auf ihrer Gemarkung steht. Dies ist insofern bemerkenswert, als es im Text heißt, der Baum sei "gehauen" worden (Edition A, Str. 5) bzw. "verdorret" (Tradierung ab Edition B, 1810).

TOBIAS WIDMAIER
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(Dezember 2012)



Editionen und Referenzwerke
Weiterführende Literatur
  • Reinhold Steig: Frau Auguste Pattberg geb. von Ketterer. Ein Beitrag zur Geschichte der Heidelberger Romantik. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 6 (1896), S. 62–122.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: vergleichsweise wenige Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: sehr häufig in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: gelegentlich auf Liedpostkarten
  • Tondokumente: etliche Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Tobias Widmaier: Es steht ein Baum im Odenwald (2012). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/es_steht_ein_baum_im_odenwald/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 29.09.2016 11:20
 

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