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Bolle reiste jüngst zu Pfingsten


Das humoristische Lied "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten" dürfte um 1900 in Berlin entstanden sein. Es wurde bis in die 1930er Jahre primär mündlich tradiert und hat erst nach 1945 breitere Aufnahme in Liederbüchern gefunden. Der Bekanntheitsgrad des Liedes spiegelt sich auch in etlichen Parodien.

I. Urheber und Entstehungsjahr des Liedes "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten" sind unbekannt. Aus den Lokalbezügen des Textes geht hervor, dass es sich um eine Berliner Schöpfung handelt, vermutlich aus der Zeit um 1900. Der 1889 in Berlin geborene und aufgewachsene Volkskundler Hermann Kügler veröffentlichte den Liedtext 1930 mit dem Hinweis, dass dieser "Gassenhauer" ihm seit seiner Schulzeit bekannt sei (Edition A). Die frühesten überlieferten Belege sind drei um 1915 erfolgte Aufzeichnungen aus der Singpraxis; Rückschlüsse auf eine nur geringe Verbreitung des Liedes können daraus allerdings nicht gezogen werden: Bei den seinerzeit durchgeführten Erhebungen des mündlich tradierten Liedgutes blieben städtische Gassenhauer nämlich weitgehend unberücksichtigt, weil viele Volksliedsammler sie für inferior hielten. Einer der erwähnten Frühbelege von "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten" stammt von einer Gewährsperson aus Elberfeld (Edition B), ein Indiz dafür, dass das Lied damals schon über Berlin hinaus bekannt war. Ein Abdruck des Liedes in einem Gebrauchsliederbuch vor 1933 war bislang nicht zu ermitteln. 1934 erschien "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten" in der vielfach aufgelegten Sammlung "Der Kilometerstein"; der Herausgeber Gustav Schulten gab hier den Liedtext im Berliner Tonfall wieder (Edition C).

II. Das scherzhafte Schwanklied "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten" erzählt von Begebenheiten anlässlich eines Pfingstausflugs, den ein Berliner mit dem Spitz- oder Nachnamen "Bolle" mit seiner Familie (zumindest mit seinem jüngsten Sohn) nach Pankow unternimmt, um 1900 noch eine Landgemeinde außerhalb Berlins und beliebtes Ausflugziel vor allem für kleinbürgerliche Schichten. In Pankow sowie der dem Ort zugehörenden Schönholzer Heide gab es seinerzeit zahlreiche Schank- und Gartenlokale mit unterschiedlichen Unterhaltungsangeboten (Tanz, Konzerte von Militärkapellen, Würfelbuden, Schießstände u. ä.), die vor allem während der Sommermonate rege besucht wurden (Hoppe 1998). Zum Ausdruck kommt die enorme Anziehungskraft Pankows und seiner Vergnügungsstätten auch in der 1898 von Carl Wappaus geschriebenen Gesangs-Polka "Komm, Karline, komm, lass uns nach Pankow gehn", die ebenfalls zum populären Gassenhauer wurde (s. Richter 1969/2004). Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt Pankow als Ort, an dem man seine "Zeit mit Jubel […] vertreiben" konnte, wie es im Lied "Der Schneider muß nach Pankow schnell hinaus" heißt, das E. T. A. Hoffmann in seiner Erzählung "Neueste Schicksale eines abenteuerlichen Mannes" (1823) erwähnt. Der in diesem Lied ausgemalte sonntägliche Gesellenausflug endet damit, dass man mit Fäusten aufeinander "dreinschlägt" und "Schneiderblut" fließt. In "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten" verliert der Liedprotagonist in Pankow zunächst "seinen Jüngsten janz plötzlich im Jewühl" (Edition C, Str. 1), muss dann feststellen, dass dort kein Bier mehr erhältlich und bereits "alles aufjefressen" ist (Str. 2), und beteiligt sich auf der Schönholzer Heide schließlich an einer "Keilerei", bei der er "fünfe massakriert" (Str. 3) und selbst starke Blessuren einsteckt (Str. 4). Wieder zu Hause, wird er von seiner "Ollen" obendrein "janz mörderlich" verdroschen (Str. 5). Bolle aber bleibt bei all dem heiterer Stimmung. Indiz für eine breite Vertrautheit mit dem Lied ist, dass die am Ende jeder Strophe wiederholte Feststellung "Aber dennoch hat sich Bolle ganz köstlich amüsiert" zur sprichwörtlichen Redensart wurde, die man anwendet, "wenn ein kleineres oder größeres Missgeschick jemandes gute Laune […] nicht trüben konnte" (Duden 1993).

III. Bis 1945 bleibt die Anzahl der Quellen zur Liedrezeption überschaubar. Neben den verschiedenen Ausgaben des "Kilometerstein" (1934ff.) – im Untertitel als "Sammlung für soldatische Gruppen" bezeichnet – haben im "Dritten Reich" nur einige wenige weitere Liederbücher "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten" aufgenommen (s. Edition C). In einer Studie über den "Liedbestand einer Pioniereinheit im 2. Weltkrieg" heißt es, das Lied sei hier "selten" und "nur von Berlinern" gesungen worden (Mechow 1969). In den 1950er Jahren setzte dann eine breitere Aufnahme in Liederbüchern ein. Insbesondere die zahlreichen Auflagen der "Mundorgel" (1956ff.) dürften zur Popularisierung des Liedes entscheidend beigetragen haben. Ebenfalls in den 1950er Jahren kam eine neue Zusatzstrophe auf, die sich über die Jahre etablierte. Ein entsprechender Beleg findet sich etwa in dem 1986 erschienenen "Lieder-Taschen-Buch" für christliche Jugendgruppen (Edition D); "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten" wird hier der Kategorie gern gesungener "Brülllieder" zugeordnet. In den 1970/80er Jahren gehörte "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten" zu den populärsten traditionellen Liedern und wurde nun verstärkt auch als "freches" Kinderlied verbreitet. Eine Reihe von Parodien aus jüngerer Zeit ist ebenfalls Indiz für die große Bekanntheit des Liedes. In der 1974/75 entstandenen Parodie des namhaften Kölner Straßenmusikers Klaus der Geiger steht "Bolle" für all jene Menschen, die auf einen Umsturz der Verhältnisse hinarbeiten (Edition E). Im Liederheft eines Berliner Aktionsbündnisses gegen die 2004 verabschiedeten Hartz IV-Gesetze finden sich gleich mehrere Umdichtungen des Liedes, darunter "Es kamen Herbst und Winter, dem Bolle wurde kalt" (Edition F).

TOBIAS WIDMAIER
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(März 2011)


Editionen und Referenzwerke


Weiterführende Literatur
  • Ralph Hoppe: Pankow im Wandel der Geschichte: "Bolle reiste jüngst…". Berlin 1998, S. 7–22.
  • Duden "Zitate und Aussprüche": Herkunft und aktueller Gebrauch. Bearbeitet von Werner Schulze-Stubenrecht. Mannheim u. a. 1993 (Der Duden 12), S. 20.
  • Max Mechow: Der Liedbestand einer Pioniereinheit im 2. Weltkrieg. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 14 (1969), S. 62–84 (Zitat S. 65; vgl. auch S. 77).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: häufig in Gebrauchsliederbüchern (ab den 1950er Jahren)
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: etliche Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Tobias Widmaier: Bolle reiste jüngst zu Pfingsten (2011). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/bolle_reiste_juengst_zu_pfingsten/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 29.09.2016 01:30
 

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