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You are here: Home Lieder Wälzen möcht' ich mich vor Trauer Edition A: Karl Gottfried Nadler 1848
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A. Wälzen möcht' ich mich vor Trauer und zerraufen meinen Bart

(Karl Gottfried Nadler 1848)


Text: Karl Christian Gottfried Nadler (1809–1849)
Musik: anonym

Scan der Editionsvorlage
 1




Ein schönes neues Lied von dem weltberühmten Struwwel-Putsch.
 
Nach der bekannten neuen Modemelodie mit Orgelbegleitung eingerichtet.
Sehr kläglich zu lesen und zu singen.
 
1. Wälzen möcht' ich mich vor Trauer
      Und zerraufen meinen Bart,
Weil das Schicksal mir die schauer-
      liche Mähr noch aufgespart.
Ach! ich kann ja gar nicht weinen,
      Todtenbleich muß ich erscheinen,
Meine kalte Stirne schwitzt –
      Denn der Herr von Struwwel – sitzt!
 
2. Ach! wohl hat er schon gesessen
                  Zu Säckingen in dem Loch,
Brod und Wasser nur gegessen,
      Wieder frei ward er jedoch.
Freiheit, Wurzeln, wie auch Kräuter,
      Er begehret ja nichts weiter,
Lebt als Turner frei und frisch,
      Und ißt weder Fleisch noch Fisch.
 
3. Und als offen ward sein Zwinger,
      Floh er in das Ellensaß,
Und schrieb krumm sich alle Finger,
      Bodenleer manch Dintenfaß;
Und bewies mit vielen Gründen,
      Heil und Glück könn' er nur finden
In der rothen Republik;
      Das bewies er Stück für Stück.
 
4. Schrieb's, und zog voll Gluth und Eifer
      Seinen Damascener raus,
Und rief einen Scheerenschleifer
      Sammt dem Karren in das Haus;
Er that selbst am Rade drehen.
      Rrrr that der Schleifstein gehen,
Bis der Sarras ganz und gar
      Scharf wie ein Scheermesser war.
 
5. Orgeln tönen ohne Rasten,
      Bertrands Abschied, Polens Noth;
Putschinell in seinem Kasten
      Schlägt mit Prügeln Alles todt;
Hunde tanzen, Affen springen,
      Harfendamen hört man singen,
Und aus Böllern Krach auf Krach,
      Denn 's ist Jahrmarkt in Lörrach.
 
6. Horch! was schreit mit schrillem Tone
      Dort aus dem Gemeindehaus?
Schau! wer steht auf dem Balkone
      Und streckt beide Arme aus?
Einen Säbel in der Rechten,
      Thut er durch die Lüfte fechten,
Seine Schärp' ist feuerroth,
      "Freiheit, schreit er, oder Tod!"
 
7. "Freiheit, ruft er abermalen,
      "Wohlstand, keine Steuern mehr,
"Ihr braucht nichts mehr zu bezahlen,
      "Drum gebt euer Geld mir her!
"Seht da: Heckers alte Garden,
      "Italiener, Savoyarden,
"Polen, und noch Allerlei
      "Steht mir heute treulich bei!"
 
8. Alle Harfendamen schwiegen,
      Alle Orgeln standen still;
Putschinell muß sich verkriechen,
      Weil kein Mensch ihn hören will;
Alles lauscht mit neuem Jubel
      Auf den Mund der Frau v. Struwwel,
Die im schwarzen Atlaskleid
      Auf den Balkon tritt und schreit: –
 
9. "Hört, ihr Jungfern und ihr Frauen,
      "Ihr dürft auch nicht müßig seyn;
"Geht an's Barrikadenbauen,
      "Macht Patronen drauf und drein;
"Helfet uns die Freiheit retten,
      "Bringt mir Hemden und Servietten,
"Ich verschmähe so was nie,
      "Das giebt treffliche Charpie."
 
10. Damit war Madam zu Ende.
      Er rief. "Ist kein Peter da?"
Sieh, nun recket man die Hände,
      Hundert Stimmen schreien "ja!"
"Ich – auch ich – und ich, – rief Jeder,
      "Kann statthaltern grad wie Peter."
Also griff er blind hinein
      Und setzt' die Regierung ein.
 
11. Und man baute Barrikaden,
      Holte Schuhe, Hemden, Geld.
Wurst, Patronen, Carbonaten,
      Alles wurde rasch bestellt.
Lörrachs große freie Geister
      Packten Amt und Bürgermeister,
Struwwel packt' die Kassen ein,
      Und ließ Lörrach – Lörrach seyn.
 
12. Denn er eilte hin gen Staufen,
      Weilt in Müllheim eine Stund;
Blankenhorn mußt' los sich kaufen,
      Tausend Gulden zahlen rund;
Mußt', als theures Angedenken,
      Ihr auch seinen Wagen schenken,
Und vier Pferde obendrein –
      Und Sie dankte, und stieg ein.
 
13. Vorwärts geht es, immer weiter,
      Alles muß im Sturm herbei,
Wein und Waffen, Roß und Reiter,
      Kisten, Kasten, Geld wie Heu;
Feuerzeichen, Sturmgeläute,
      Freies Leben, Lust und Freude;
Und wenn die Begeist'rung glüht,
      Singt man Schillers Räuberlied.
 
14. Rumbumbum, die Trommeln gehen,
      Und in Staufen zieht man ein.
Züge, kaum zu übersehen,
      Zehentausend mögen's seyn! –
Um den Hals die goldne Kette,
      Vor den Augen die Lorgnette,
Liegt zur angenehmen Schau
      Breit im Wagen Struwwels Frau.
 
15. Hinterm Wagen her da kamen
      General Löwenfels und Blind,
Siegel, und wie all die Namen
      Dieser tapfern Struwwler sind.
Struwwel eilte, um die Kassen
      Für die Freiheit abzufassen,
Aber eh' er sich's versah
      Waren schon die Badner da.
 
16. General Hoffmann, der "verthierte",
      Der "entmenschte" General,
Der griff an und kanonirte
      Wie ein wahrer Kannibal.
Struwwel rief: ‚Mein Schatz, aus Staufen
      "Woll'n wir im Galopp jetzt laufen;
"Der könnt' so barbarisch seyn,
      "Schöß' uns heut' noch kurz und klein."
 
17. Von den Barrikaden schossen
      Alle Struwwler scharf hinaus,
Aber die Haubitzen gossen
      Ströme von Kartätschen aus;
Rauch erhebt sich, Häuser brennen,
      Struwwler fallen, andre rennen,
Und vor Allen Er und Sie,
      Oft im Dr – bis an die Knie.
 
18. Aus war's mit den Barrikaden,
      Alle riß und schoß man ein,
Und die stürmenden Soldaten
      Drangen in die Stadt herein.
Frau v. Struwwels Hut und Mantel
      Fanden sie in einem Kandel (Rinne),
Und ein Söldling war so frech,
      Riß das schöne Futter weg;
 
19. Denn der große Herwegh könnte,
      Das bildt' sich der Esel ein –
Unser Herwegh könnt' am Ende
      Eingenäht dazwischen seyn!
Und der sitzt doch warm und trocken;
      Aber Struwwel ließ sich locken,
Ging dem Oberamtmann Schey
      Jetzt zum zweiten Mal in's Gäu.
 
20. Hart und schwer durch Wald und Felder
      Schleppt die rothe Republik
Ihre Wintervorrathsgelder
      Nach der schönen Schweiz zurück.
Ach, wie mühsam und wie sauer
      Ward's dem Struwwel, Betz und Bauer,
Und dem Dusar und dem Blind,
      Und Madam dem guten Kind!
 
21. "Polen ist noch nicht verloren"
      Sang Madam zwar Anfangs noch,
Aber bald hat sie's gefroren,
      Denn ihr Strumpf bekam ein Loch;
Ach vor Frost that sie erbleichen,
      Ließ mit Schminck sich roth bestreichen
Und den Schminktopf nahm nachher
      Amtmann Schey ihr ab in Wehr.
 
22. Ja in Wehr ward sie gefunden,
      Unsre ganze Republik,
Eingefangen und gebunden
      Kam sie von der Grenz zurück;
Als sie grad sich wollt erquicken,
      Mußte Bürgerwehr anrücken,
Und der Oberamtmann Schey,
      Auch noch Dieser kam herbei!
 
23. Ach im Mund war kaum der Löffel,
      Als man sie ergreifen that!
Heiliger Sanct Zitz und Schlöffel,
      Heiliger Sanct Blum schaff Rath!
Ich muß hier mein Lied beschließen,
      Meine heißen Zähren fließen,
Meine kalte Stirne schwitzt,
      Denn der Herr v. Struwwel – sitzt!
 
24. Ich der Spielmann bei den Hessen,
      Der das Heckerlied erdacht,
Hab nicht minder unterdessen
      Diesen Putsch in Reim gebracht.
Wer dabei nicht war in Laufen;
      Braucht nur dieses Lied zu kaufen,
Dann hat er es schwarz auf weiß,
      So gewißlich als ich heiß
                                  Johann Schmitt


Ein schönes neues Lied von dem weltberühmten Struwwel-Putsch. (Federlithographie, teilkoloriert; Typensatz) Nördlingen: F. Erhard [November 1848].
DVA: Graphik-Abt., Sammlung Nötzoldt (Inv.-Nr. 79/584)


Editorische Anmerkung:
Die Datierung des Druckes auf November 1848 beruht auf der Erwähnung des Liedes in der Zeitschrift "Charivari" vom 24. November 1848 (7. Jg., Nr. 355, S. 5291).
Worterläuterungen:
Str. 2, Ellensaß: Elsaß;
Str. 4, Damascener: Klingenwaffe aus Damaszener Stahl;
- ebd., Sarras: schwerer Säbel mit gebogener Klinge;
Str. 9, Charpie: Verbandsmaterial aus gezupfter Leinwand (sogenannte Wundfäden);
Str. 17, Haubitze: Artillerie-Geschütz;
- ebd., Kartätsche: Schrotladung der Artillerie.
Für Erläuterungen zu den erwähnten Personennamen und Liedern siehe den ausführlichen Kommentar zum Liedtext.

Nadlers Struve-Text wurde nach 1855 nur noch in den verschiedenen Auflagen seines Gedichtbandes "Fröhlich Palz, Gott erhalts!" tradiert:
  • 3. Aufl. Frankfurt a. M.: H. L. Brönner 1860, S. 297–305;
  • 4. Aufl. Frankfurt a. M.: H. L. Brönner 1864, S. 241–247;
  • 6. Aufl. Frankfurt a. M.: Winter 1873, S. 191–197;
  • 8. Aufl. Heidelberg: Koester 1882, S. 233–239;
  • Karlsruhe: Lang [1893], S. 231–239.
Der ab 1880 im Verlag Schauenburg (Lahr) von Ludwig Eichrodt herausgegebene Nachdruck von Nadlers "Fröhlich Palz" (mit Illustrationen von A. Oberländer) enthielt das Struve-Lied jedoch nicht mehr (4. Aufl. bereits 1881, 6. Aufl. 1898); auch die 1895 bei Reclam (Leipzig) verlegte Ausgabe nicht. Erst im 20. Jahrhundert wurde in den (Schauenburg-)Ausgaben der "Struwwel-Putsch" wieder ergänzt:
  • Lahr: Schauenburg, 8. Aufl. neu bearb. von Otto Heilig 1922, S. 213–218;
  • Lahr: Schauenburg, 9. Aufl. 1958, S. 241–247;
  • Landau: Pfälz. Verlags-Anstalt 1994, S. 250–255.
In der historischen Sekundärliteratur ist er nur selten nachgedruckt worden; z. B. in:
  • Friedrich Lautenschlager: Volksstaat und Einherrschaft. Dokumente aus der badischen Revolution 1848/1849. Konstanz und Baden 1920, S. 223–236;
  • Wolfgang Dreßen: 1848/49 Bürgerkrieg in Baden. Berlin 1975 (Str. 14–21 als Auszug);
  • Ulrich Otto: Die historisch-politischen Lieder und Karikaturen des Vormärz und der Revolution von 1848/49. Köln 1982, S. 350.
last modified 31.08.2011 04:56
 

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