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Unser liebe Fraue vom kalten Brunnen


Bei dem Lied "Unser liebe Fraue vom kalten Brunnen" handelt es sich insgesamt um ein fiktives Landsknechtlied. Seine Melodie war im 16. Jahrhundert sehr beliebt und ist auf verschiedene weltliche und geistliche Texte gesungen worden. Darunter waren auch einige Landsknecht-Verse auf die Gottesmutter "vom kalten Brunnen", die aber erst in den Jahren um 1900 den Ausgangspunkt für die Neudichtung weiterer Strophen darstellten. In dieser erweiterten Form war das Lied im 20. Jahrhundert vor allem in der Jugendbewegung verbreitet.

I. "Unser liebe Fraue vom kalten Brunnen" wurde 1556 als einstrophiges Lied in Georg Forsters "Frischen Teutschen Liedlein" erstmals veröffentlicht (Edition A). Der musikalische Satz stammte von Johann Stahel, der zwischen 1525 und 1550 wirkte und vor allem liturgische Kompositionen für den evangelischen Gebrauch schrieb. Die Melodie weist im ersten Teil eine gewisse Ähnlichkeit mit einer anderen Melodie auf, die in einem Kodex aus dem 15. Jahrhundert in der Stiftsbibliothek St. Gallen überliefert ist und sich dort als Spottlied auf einen Geistlichen ("Vnser her der pfarer in ein kesbore entran") innerhalb einer frivolen Fabel ("Der Pfaff im Käskorb") findet. Mit der Weise von "Unser liebe Fraue" sind aus dem 16. Jahrhundert wiederum zwei weitere weltliche Scherzlieder überliefert, die ebenfalls mit dem ersten Wort "Unser" beginnen und von denen eines erneut den "Herrn Pfarrer" aufs Korn nimmt: "Unser Herr der Pfarrer, der hat der Pfennig viel, er hat ein schöne Köchin, er kauft ihr, was sie will" (Georg Forster 1556) sowie "Unser lieben Hühnerchen verloren ihren Hahn" (Johann Eccard 1589). Ab 1586 wurde die Melodie auch in katholischen Kirchengesangbüchern zu verschiedenen Texten abgedruckt: Bekannt sind insbesondere die überwiegend in Süddeutschland verbreiteten Wallfahrtsgesänge "Gelobt sei Gott der Vater" (1586) und "Gegrüßet seist, Sant Francisce!" (1646), aber auch das Fronleichnamslied "Freut euch ihr lieben Seelen" (1605).

II. In der überlieferten Strophe aus dem 16. Jahrhundert wird die Gottesmutter "vom kalten Brunnen" angerufen und um Beistand gebeten. Das lässt die Vermutung zu, dass ein Wallfahrts- oder Marienlied die Vorlage dafür gebildet haben mag (Salmen 1965). Ferner könnte die Hinzufügung "zum kalten Brunnen" bedeuten, dass es sich um einen konkreten Ort handelt, an dem sich eine Marienstatue befindet, die angerufen wurde. Aber ob es dabei direkte Bezüge zu damals prominenten Wallfahrtsorten namens Kaltenbrunn(en) – etwa in Tirol (Kaunertal), der Steiermark (Stift Göss) oder der Pfalz (Ranschbach) – gibt, konnte bislang nicht geklärt werden. Ob "Unser liebe Fraue" ein Spottlied auf Landsknechte, ein von Landsknechten ernst gemeintes Marienlied oder eine Parodie von Landsknechten auf ein Marienlied darstellt, ist ebenfalls unklar. Denn einerseits waren Landsknechte wegen ihrer ungewöhnlichen Tracht, ihres Raubens und übermäßigen Trinkens bei der Bevölkerung nicht beliebt und daher Ziel parodistischer Lieder und Darstellungen (vgl. Abele 2006; Irler 2002). Andererseits haben Landsknechte selbst in ironischer Weise Lieder über ihren Lebenswandel gedichtet (siehe z. B. Moser 1940; Nestle 1880). Nach der Veröffentlichung bei Forster scheint dieses Lied für knapp 300 Jahre in Vergessenheit geraten zu sein.

III. Erst im 19. Jahrhundert wurde "Unser liebe Fraue vom kalten Brunnen" wiederentdeckt. Der Text erscheint 1844/1845 bei Ludwig Uhland in seinen "Alten hoch- und niederdeutschen Volksliedern" im Kapitel, das "Landsknechtorden" überschrieben ist. Bei ihm lautet die erste Zeile "Unser liebe Frawe". Franz Magnus Böhme veröffentlichte es dann 1877 in seinen "Altdeutschen Liedern". Im Jahr 1900 dichtete der Gymnasiallehrer Friedrich van Hoffs (1843–1919) eine zweite und dritte Strophe historisierend hinzu. Er übernahm jeweils die ersten zwei Zeilen und den Stil der Vorlage und thematisierte mit moralisierendem Unterton das Rauben und Saufen der Landsknechte (Edition B).

IV. Die Tendenz zur Popularisierung des Liedes als pseudohistorisches Landsknechtlied verstärkte sich in den 1920er Jahren, als das Lied noch um zwei zusätzliche Strophen erweitert wurde. Hierbei handelt es sich um eine Kompilation aus dem Gedicht "Der säumige Landsknecht" (1903) des Dichters und Romanciers Emil Prinz von Schönaich-Carolath (1852–1908). Zugleich hat der unbekannte Bearbeiter noch einen Trommelrefrain hinzugefügt. Fritz Meyers vermutet als Urheber dieser Maßnahme einen "findigen Wandervogel", der entdeckt habe, "dass sich dieser Text, zu je 2 Strophen gebündelt, zur Melodie des alten Landsknechtsliedes singen läßt, wobei allerdings eine der 5 Strophen übrig bleibt" (Meyers 1977). Die hinzu gekommenen Strophen handeln von den Entbehrungen und Gefahren, denen die Landsknechte im Krieg ausgesetzt waren, vom Expansionsdrang des Kaisers (Maximilian I.) sowie von der Sorge der Liebsten zu Hause (Edition C). Die Verklärung der Landsknechte und ihres Lebens, ausgehend von der Jugendbewegung, steht in krassem Gegensatz zur historischen Realität. Der Dienst in diesen ersten, gut organisierten Truppen zu Fuß kämpfender Söldner (Ende des 15. Jahrhunderts bis zum Dreißigjährigen Krieg) bedeutete vielfach: Verwundung, Hunger, Kälte, Krankheiten und meist den frühen Tod. In Kriegszeiten, wenn die Landsknechte angeworben waren, verdienten sie im Allgemeinen immerhin gut. Zahlte aber der Auftraggeber nicht oder waren sie nicht engagiert, beraubten die Landsknechte die Bevölkerung, weshalb sie von dieser verachtet und gefürchtet waren.

V. Im 20. Jahrhundert wird "Unser liebe Fraue" vor allem in der Jugendbewegung rezipiert, in Jugendliederbüchern, Fahrtenliederbüchern und Wanderliederbüchern, aber auch – gemäß dem kämpferischen Sujet des Liedes – in Gebrauchsliederbüchern der dreißiger Jahre, in denen eine entsprechende Tendenz spürbar ist (z. B. "Unser Liederbuch. Lieder der Hitlerjugend", 2. Aufl. München 1939; Hans Baumann: "Morgen marschieren wir. Liederbuch der deutschen Soldaten", Potsdam 1939). Das Lied passte glänzend zur Landsknechtromantik der Jugendbewegung, die später dann vielfach mit dem soldatischen Habitus der NS-Bewegung Hand in Hand ging. Hinsichtlich der Textfassungen waren alle drei Versionen anzutreffen: Entweder erschien das Lied nur mit der historischen Strophe von 1556 oder (am häufigsten) mit den drei Strophen in der Fassung Friedrich van Hoffs (Edition D). Die fünfstrophige Fassung ist demgegenüber deutlich seltener anzutreffen. Bis in die 1950er Jahre ist das Lied relativ verbreitet, danach nimmt die Rezeption ab.

FRAUKE SCHMITZ-GROPENGIESSER
(Dezember 2008)



Literatur
  • Fritz Meyers: "Unsere liebe Fraue vom kalten Bronnen". Zur Textgeschichte eines Jugendliedes. In: ad marginem. Randbemerkungen zur Musikalischen Volkskunde Nr. 37 (1977), o. S.
  • Fritz Meyers: Geldern im Lied. In: Geldischer Heimatkalender 1974, S. 235–245. (hier S. 238f. zu "Unser liebe Fraue").
  • Walter Salmen: Zur Geschichte eines mittelalterlichen Fahrtenliedes. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 10 (1965), S. 145–147 (Zitat S. 147).

Editionen und Referenzwerke
Weiterführende Literatur
  • Ute Abele: Die Landsknechtlieder in den Codices Magliabechi XIX, 121 und Banco Rari 230. In: Annemarie Firme, Ramona Hocker (Hrsg.): Von Schlachthymnen und Protestsongs. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg. Bielefeld: Transcript-Verlag 2006, S. 41–59 (hier S. 46).
  • Hans Irler: Heroisierung – Ironisierung – Verspottung. Landsknechtflugblätter und ihr historischer Erkenntniswert. In: Wolfgang Harms, Alfred Messerli (Hrsg.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). Basel: Schwabe Verlag 2002, S. 85–108 (hier S. 92f. und 103).
  • Jakob Baechtold: Einundzwanzig Fabeln, Schwänke und Erzählungen des XV. Jahrhunderts. In: Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Alterthumskunde 33 (1888), S. 257–283 (S. 271f. über die Fabel "Der Pfaff im Käskorb").
  • Hans Joachim Moser: Lebensgeschichten deutscher Soldatenlieder. II. Landsknechtweisen. In: Germanien. Monatshefte für Germanenkunde 12 (1940) Heft 3, S. 81–85 (hier S. 82).
  • Dr. Nestle: Landsknechtlieder. In: Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Alterthumskunde 25 (1880), S. 91–95 (hier S. 92).
  • Gustav Scherrer: Verzeichnis der Handschriften des Stiftsbibliothek von St. Gallen. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1875, S. 210 (Nr. 643).
  • Johann Eccard: Neue geistliche und weltliche Lieder, zu fünf und vier Stimmen. Königsberg 1589. In Partitur gesetzt von Robert Eitner. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1897 (Publikation älterer praktischer und theoretischer Musikwerke 21).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: häufig in Gebrauchsliederbüchern (nur 20. Jahrhundert)
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: selten auf Tonträgern
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Frauke Schmitz-Gropengiesser: Unser liebe Fraue vom kalten Brunnen (2008). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/unser_liebe_fraue_vom_kalten_brunnen/>.


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last modified 16.10.2012 10:25
 

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