Und die Würzburger Glöckli
Herkunft und Verfasser des Liedes "Die Würzburger Glöckli" sind nicht bekannt, es erschien erstmals 1830 in einer Bearbeitung des Komponisten Gustav Reichardt. Das bis um 1930 recht populäre, heute kaum mehr bekannte Lied ist ein Dokument der bürgerlichen Mode, Lieder im "Schnadahüpfl"-Stil zu singen und zu jodeln. In Würzburg wurde das Lied zu einem Ausdruck lokaler Identität.
I. Das Lied "Die Würzburger Glöckli" wurde erstmals 1830 in einer Sammlung mit vierstimmigen Bearbeitungen von "Volks-Liedern" (op. 9) des Berliner Musikpädagogen und Komponisten Gustav Reichardt (1797–1884) veröffentlicht (Edition A). Reichardt – der mit seiner Vertonung von Ernst Moritz Arndts "Was ist des Deutschen Vaterland" (1825) das bis zur Reichsgründung 1870 wohl meist gesungene patriotische Lied schuf – hatte 1819 u. a. mit Ludwig Rellstab die jüngere Berliner Liedertafel begründet und vermutlich durch letzteren "Die Würzburger Glöckli" kennengelernt. In seinen Lebenserinnerungen berichtet Rellstab, anlässlich eines mehrmonatigen Aufenthaltes 1821 in Frankfurt/Oder mit dem Arzt Eduard Petersen freundschaftlich verkehrt zu sein, der als "erste[r]" deutsche Volkslieder "vierstimmig gesetzt" habe. Zu den "allerliebste[n] Gesangstücke[n]" Petersens, die "die Frankfurter Gesellschaften erfreuten und erheiterten", zählte Rellstab auch "Die Würzburger Glöckli" (Aus meinem Leben, 1861). Für die Zeit vor 1821 lässt sich das Lied quellenmäßig nicht belegen.
II. Die Tatsache, dass "Die Würzburger Glöckli" zuerst als vierstimmig gesetztes bürgerliches Gesellschaftslied greifbar wird, ist im Kontext der in dieser Schicht seinerzeit großen Begeisterung für "Volkslieder" zu sehen. Ein Typus von Liedern war dabei besonders beliebt: solche nämlich mit vierzeiligen Strophen im "Schnadahüpfl"-Stil in einem süddeutsch (bzw. österreichisch/schweizerisch) eingefärbten Dialekt, denen teilweise am Ende jeder Strophe noch ein einfach auszuführender Jodler angehängt war (im Fall von "Die Würzburger Glöckli" auf die Silbe "la la la"). Popularisiert wurden entsprechende Lieder etwa durch Singspiele (s. "Kommt ein Vogel geflogen") oder die Tourneen sog. Tiroler Nationalsängergesellschaften (s. "Zu Lauterbach hab' i mein Strumpf verlorn"). In wie weit hier tatsächlich auf mündlich tradiertes Liedgut zurückgegriffen wurde bzw. in welchen Fällen Authentizität bloß fingiert war, ist im Rückblick nicht immer auszumachen. Bei zumindest vier der sechs Nummern, die Gustav Reichardt für seine "Volks-Lieder" op. 9 bearbeitet hat, handelt es sich jedenfalls um Kunstlieder im Volkston ("Es steht ein Baum im Odenwald" "Wann i in der Früh aufsteh", "Uf'm Bergli bin i g'sässe", "I hab ein artiges Blümeli g'seh").
III. Das Lied "Die Würzburger Glöckli" wurde im Zeitraum zwischen den frühen 1830er und späten 1920er Jahren in viele Gebrauchs- und Kommersliederbücher aufgenommen. Meist findet es sich hier in einer fünfstrophigen Fassung, die zuerst im "Liederbuch für deutsche Künstler" (Berlin 1833) erschienen ist (Edition B). Inhaltlich scheint die Eingangstrophe zu den nachfolgenden nicht recht zu passen, in denen – an die Adresse eines "Du" gerichtet – von Liebesbelangen gesungen wird. Dieser zweite Strophenblock besteht aus Wanderstrophen, die auch in weiteren Liedern des 19. Jahrhunderts nachzuweisen sind (z. B. Erk/Böhme Nr. 1015). Die erste Strophe – das Einleitungswort "und" lässt sich vom "Liederbuch für deutsche Künstler" (Edition B) an fast durchgehend belegen – war von der ursprünglichen Intention her wohl spöttisch gemeint. Als Urheber dieses Vierzeilers ("Und die Würzburger Glöckli / hab'n schönes Geläut / und die Würzburger Maidli / sein kreuzbrave Leut") ist ein Student aus dem protestantischen Preußen denkbar, der so seine Sicht der katholisch geprägten Universitätsstadt Würzburg auf den Punkt gebracht hat: Für charakteristisch befunden wurden das häufige Läuten der Kirchenglocken sowie – damit zusammenhängend – der Umstand, dass die Mädchenwelt dort "kreuzbrav" (d. h. bieder und frömmelnd) war. Entsprechend schrieb etwa der junge Medizinstudent Ernst Haeckel 1853 aus Würzburg an seine Eltern in Berlin: "Morgen ist […] Aschermittwoch. Da gehen […] alle Leute in die Kirche und lassen sich Asche aufs Haupt streuen und vom Geistlichen auf alle Weise heruntermachen und malträtieren, um dadurch ihre Frömmigkeit zu beweisen! Das ist überhaupt hier eine schöne Frömmigkeit! Hauptsächlich besteht sie darin, daß zu jeder Viertelstunde fast 5 Minuten lang alle Glocken geläutet werden, so daß einem oft vor lauter Bimmeln Hören und Sehen vergeht und man meint, die Leute hätten nichts anderes zu tun als Glocken zu ziehen. Solche Frömmigkeit ist aber den Pfaffen grade recht und sie suchen sie auf alle Weise zu fördern."
IV. Die Popularität des Liedes "Und die Würzburger Glöckli" im 19. Jahrhundert spiegelt sich auf unterschiedliche Weise. So findet sich z. B. 1864 im satirischen Wochenblatt "Frankfurter Latern" eine Parodie des Liedes, die die in Würzburg seinerzeit durchgeführte 16. Generalversammlung der Katholischen Vereine Deutschlands (Katholikentag) aufs Korn nahm (Edition C). Daneben wurde das Lied auf andere Ortschaften umgemünzt. Mehrere solcher lokaler Varianten sind im Rahmen der Sammlungen von Liedern aufgezeichnet worden, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unternommen wurden (Edition F). Im frühen 20. Jahrhundert fand das Lied "Und die Würzburger Glöckli" auch in einer Reihe von Liederbüchern der Wandervogel- und Jugendbewegung Aufnahme (Edition D). Insgesamt blieb es bis um 1930 recht populär, verschwand danach allerdings rasch aus dem breiteren Singrepertoire. Eine gewisse Rezeption erfährt heute einzig noch der 1915 im sog. "Kaiserliederbuch" veröffentlichte Chorsatz des Liedes von Max Reger (Edition E).
V. Anders verhält es sich lediglich im Würzburger Raum: In der besungenen Stadt selbst avancierte das Lied "Und die Würzburger Glöckli" – unbesehen der oben (III.) erwogenen Lesart der ersten Strophe – schon früh zu einem Ausdruck heimatlicher Identität. Der Würzburger Verlag Stahel brachte nach 1850 ein Liederbuch mit dem Titel "Die Würzburger Glöckli hab'n a schönes Geläut" heraus. "Würzburger Glöckli" benannt war auch ein in Würzburg 1878–1914 erscheinendes "Wochenblatt für städtische und gesellschaftliche Interessen, Literatur und Kunst". Die Erhebung in den Rang einer Lokalhymne wird insbesondere durch zahlreiche einschlägige Liedpostkarten illustriert (Abb. 1). Auch gegenwärtig noch ist das Glöckli-Lied in der Klanglandschaft der Stadt Würzburg präsent: Auf dem 1956 errichteten Glockenspiel des dortigen Bürgerspitals wird die Melodie des Liedes täglich zu Gehör gebracht.
TOBIAS WIDMAIER
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(August 2011)
Editionen und Referenzwerke
- Erk/Böhme 1893, Bd. 2, S. 791 (Nr. 1052).
- Friedlaender, Commersbuch 1892, S. 122 (Nr. 125) u. S. 161 (Anmerkungen).
Weiterführende Literatur
- Ernst Haeckel: Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe an die Eltern 1852/1856. Leipzig 1921 (Zitat S. 37).
- Ludwig Rellstab: Aus meinem Leben. Berlin 1861 (Zitate Bd. 2, S. 14).
- Ludwig Rellstab: Empfindsame Reisen. Nebst einem Anhang von Reise-Berichten, -Skizzen, -Episteln, -Satiren, -Elegien, -Jeremiaden u.s.w. aus den Jahren 1832 und 1835, Bd. 2. Leipzig 1836, S. 85f.
Quellenübersicht
- Ungedruckte Quellen: vergleichsweise wenige Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
- Gedruckte Quellen: sehr häufig in Gebrauchsliederbüchern (jedoch selten nach 1945)
- Bild-Quellen: gelegentlich auf Liedpostkarten
- Tondokumente: selten auf Tonträger
Zitiervorschlag
Tobias Widmaier: Und die Würzburger Glöckli (2011). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/und_die_wuerzburger_gloeckli/>.
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