B. Ihr Leute tretet näher h'ran
(Leipzig um 1846/47)
Text: anonym
1. | Ihr Leute tretet näher h'ran | |
Und nehmt euch ein Exempel dran! | ||
Hört, was neulich an der Spreen | ||
In der Hauptstadt ist geschehn. | ||
2. | Jedes treue Preußenherz | |
Hebt die Blicke himmelwärts | ||
Und erkennt, wie jeden Morgen | ||
Gott thut für den König sorgen. | ||
3. | Ravaillac bracht Heinrich um, | |
Ankerström war auch nicht dumm, | ||
Und Fieschi der Verräther | ||
War ein arger Attentäter. | ||
4. | Doch im treuen Preußenland | |
War sowas noch nicht bekannt, | ||
War sowas noch gar nicht Mode, | ||
Starb ein König nur am Tode. | ||
5. | Unser guter König hörte, | |
Daß in Schlesien man empörte, | ||
Weil man hungerte nach Noten, | ||
Doch Empörung ist verboten. | ||
6. | Unten also in das Schloß | |
Hält dem König sein Karoß, | ||
Das war morgens um die Achte, | ||
Als noch Niemand Böses dachte. | ||
7. | Nöfschandeller stehn umher | |
In dem Arm ihr kurz Gewehr | ||
Und ein Kerl ist graugemantelt | ||
In das Schloßportal gewandelt. | ||
8. | Pocken hat er in's Gesicht, | |
Das bedeutet Gutes nicht | ||
Dunker hätte gleich errathen, | ||
Daß er wollte attentaten. | ||
9. | Seht die edle Königin | |
Setzt sich in den Wagen rin, | ||
Redern reicht ihr eine Düte | ||
Schmeckt so prächtig erster Güte. | ||
10. | Und der König kommt heraus, | |
Fromm verschlafen sieht er aus, | ||
An den Wagen thut er treten | ||
Und ein Vaterunser beten. | ||
11. | Wie er nun im Wagen sitzt, | |
Tschech sein Terzerol abblitzt. | ||
Zweimal schießt er ohne Rührung | ||
Da folgt endlich Arretirung. | ||
12. | Als der König ihn erblickt, | |
Von Gendarmen rings umstrickt, | ||
Kriegt auf einmal er Courage | ||
Und spricht L ... | ||
13. | Und der Wagen fährt ein wenig | |
Halt gebietet drauf der König, | ||
Spricht: "das war ein dummer Spaß, | ||
Wascht'n Pelz und macht'n nicht naß". | ||
14. | Redern heult und rennt zur Wache | |
Schnaubt als Kammerherr um Rache, | ||
Frägt den Offizier: "Wie heißt er? | ||
Tschech. – "und ist?" – ein Bürgermeister. | ||
15. | Der König und die Königin | |
Fuhren drauf zum Bahnhof hin | ||
Und die Kugeln thät man finden | ||
In des Wagens tiefsten Gründen. | ||
16. | Eine ging dem guten König | |
Ueber seine Brust ein wenig, | ||
Macht ihm eine kleine Wurst, | ||
Doch die reizt noch mehr den Durst. | ||
17. | Und kein Prinzlein war zu Hause | |
An dem Tag von Schreck u. Grause, | | [fol. 1v] | |
Ach wie hätt' es uns geniret | ||
Alleweil ganz unregiret. | ||
18. | Eine Illumination | |
Macht die dankbare Nation. | ||
Weil der König nicht getroffen, | ||
Ward den Abend viel gesoffen. | ||
19. | Ihr Leute tretet näher h'ran | |
Und nehmt Euch ein Exempel dran, | ||
Hört die Moral von dem Gedicht | ||
Und traut kein'm Bürgermeister nicht. |
Handschrift, an den Leipziger Verleger Hirzel gerichtet. Aus einer Polizeiakte um 1846/47, Universitätsbibliothek Leipzig, Sondersammlungen, Signatur Rep. IV, 8/124, fol. 1v–2r (Nr. I).
DVA: A 233086
Editorische Anmerkung:
Die Quelle enthält insgesamt drei Tschech-Lieder und dazu die folgenden Herkunftsangaben (fol. 2r):
"Von diesen drei Poesien ist das erste [obiges] das ursprüngliche, wörtlich den Polizeiacten entnommen und soll von einem Gymnasiasten des grauen Klosters, nach andern von einem Studenten verfertigt sein."
Zu den beiden anderen Liedern siehe den Liedkommentar zu "War wohl je ein Mensch so frech", Edition B sowie John 2009.Die Handschrift wurde von E. Wolfgramm in der Handschriftenabteilung der Leipziger Stadtbibliothek entdeckt und Wolfgang Steinitz für seine Edition "Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters" (Bd. 2, 1962) zur Verfügung gestellt. Wolfgramm vermutete als Datierung 1846/47 und fand damit die Zustimmung von Steinitz (siehe Steinitz S. 135f, Anm. 4 und S. 144f.).
Texterläuterungen:
Str. 7/1: Nöfschandeller: Soldaten aus dem damaligen Fürstentum Neuchâtel in der Schweiz (heute Kanton Neuenburg), dessen "souveräner Fürst" seit 1707 der preußische König war. Ab 1814 musste Neuenburg das sogenannte Gardeschützen-Bataillon stellen, welches anfänglich in Berlin beim Schlesischen Tor untergebracht war und seinen Namen auch nach der Loslösung von Preußen 1857 beibehielt.
Str. 8/3: Dunker: ein damals als Kriminalist bekannter Berliner Polizeirat. Str. 9/3: Redern: Friedrich Wilhelm von Redern (1802–1883), einflussreicher Politiker am preußischen Hof, Kammerherr der preußischen Königin und Generalintendant der kgl. Bühnen und Hofmusik.
Die vorliegende Fassung enthält einige Textüberschneidungen mit dem anderen bekannten Tschech-Lied "War wohl je ein Mensch so frech", insbesondere in:
- Strophe 7 (... graugemantelt / In das Schloßportal gewandelt) – siehe dazu "War wohl je ein Mensch so frech", Edition B, Zeile 9f., sowie Edition C, Str. 3;
- Strophe 8 (Pocken ... Dunker) – siehe "War wohl je..." Edition B, Z. 15f und 37f., sowie Edition C, Str. 2;
- Strophe 10 (König ... verschlafen) – siehe "War wohl je..." Edition B, Z. 17f.;
- Strophe 19 (Hört die Moral ... traut kein'm Bürgermeister nicht) – siehe "War wohl je..." Edition B, Z. 41f.
last modified
13.12.2009 11:14