Skip to content. Skip to navigation

Liederlexikon

Personal tools
You are here: Home Lieder Ich muss scheiden von den Meinen
Document Actions

Ich muss scheiden von den Meinen


"Ich muss scheiden von den Meinen" ist ein Rekrutenlied, das während des Ersten Weltkriegs in einem der russlanddeutschen Siedlungsgebiete entstanden ist. Es thematisiert den Abschied eines Soldaten von seiner Familie und seine bevorstehenden Kriegseinsätze. Darüber hinaus artikuliert der unbekannte Autor äußerst prägnant seine Kritik am kriegstreiberischen Wirken des Deutschen Kaiserreiches. Dieses Lied wurde nachweislich noch Ende der 1920er Jahre von Russlanddeutschen in der Ukraine gesungen, ist für spätere Zeiträume jedoch nicht mehr belegt.

I. Die erste Aufzeichnung von "Ich muss scheiden von den Meinen" stammt aus dem Jahr 1927. Angefertigt wurde diese von der Germanistin Ellinor Johannson während einer Feldforschungsreise auf der Halbinsel Krim (Ukraine), in einer russlanddeutschen Siedlung mit dem – in diesem Kontext ironisch wirkenden – Namen Friedental (Edition A). Zum Zeitpunkt der Aufzeichnung war die Gewährsperson, Dorothea Bauer, ein 15-jähriges Mädchen. Dies lässt darauf schließen, dass dieses Rekrutenlied in Friedental um 1927 noch recht präsent war und offenbar von der Dorfjugend in ihr Liedrepertoire aufgenommen wurde. Die Tonaufzeichnung Johannsons belegt, dass "Ich muss scheiden von den Meinen" auf die Melodie des russischen Liedes "Stenka Rasin" gesungen wurde, welches unter Russlanddeutschen äußerst populär war und dessen Weise als eine Art Universalmelodie einer Vielzahl unterschiedlicher Texte unterlegt wurde.

II. Inhaltlich ist das Lied "Ich muss scheiden von den Meinen" eine Melange aus einer Reihe von Topoi, die auch in anderen Soldatenliedern häufig vorkommen. Der Text beschreibt aus der Perspektive eines russlanddeutschen Rekruten, der in den Ersten Weltkrieg zieht, die Situation des Aufbruchs in den Krieg: den in tapferer Haltung vollzogenen Abschied von der Familie ("Tränen darf man keine sehen"); eine letzte väterliche Ermahnung an die Kinder, während seiner Abwesenheit auch folgsam zu sein; die Schilderung des Schicksals, das ihm bevorsteht – fern von der Familie und nicht wissend ob er dies heil überstehen wird im Krieg gegen die Armeen unterschiedlicher europäischer Staaten eingesetzt zu sein, sowie die Härte der Situation für die allein zurückgebliebenen Frauen. Als seelische Stütze in dieser Situation wird Gott angerufen und auf seine Führung gebaut. Mit einer Parodie von Hoffmann von Fallerslebens "Lied der Deutschen" kulminiert der Liedtext in einer dezidierten Kritik an der Kriegspolitik des Deutschen Kaiserreich: "O du Deutschland über Alles, Du erschreckst die ganze Welt (...)".

III. In seiner Textkomposition greift der anonyme Autor vertraute Elemente anderer Lieder auf und verbindet diese wirkungsvoll zu einem konsistenten Ganzen. So besteht die zweite Hälfte der ersten Strophe sowie die sechste Strophe aus Wanderversen über den Abschied von den nächsten Angehörigen und deren Befindlichkeit in dieser Ausnahmesituation, wie sie typisch für eine Vielzahl von Soldatenabschiedsliedern sind. Neben der schon erwähnten Parodie des "Liedes der Deutschen", das während des Ersten Weltkrieges sowohl als Ausdruck patriotischer Gesinnung wie auch in sozialkritischen Umdichtungen viel rezipiert wurde, findet sich noch ein weiteres Liedzitat: der letzte Vers der vierten Strophe ist eine Sequenz aus dem Choral "Gott der Herr ist mein Begleiter". Sein Text stammt aus der Feder Samuel Rodigasts (1649–1708) und wurde in paraphrasierter Form von Johann Sebastian Bach in insgesamt drei Kantaten verarbeitet (BWV 98–100; BWV 100 umfasst den gesamten Liedtext). Die von Bach verwendete Textfassung entwickelte sich zu einem der populärsten protestantischen Trostlieder und sein Text findet sich auch in den unter Russlanddeutschen verbreiteten evangelischen Liederbüchern. Durch das Verszitat wird gleichsam der gesamte Choral mitsamt seinem Bedeutungsgehalt mnemotechnisch an dieses Rekrutenlied angebunden.

IV. Das Faktum, dass dieses Lied aus dem Ersten Weltkrieg noch 1927 in der Ukraine gesungen und zu diesem Zeitpunkt auch von der nachkommenden Generation aufgegriffen und weiter tradiert wurde, spricht für eine anhaltende Beliebtheit des Textes – jedenfalls in der Kolonie Friedental. Da uns derzeit keine weiteren Belege bekannt sind, lassen sich allerdings über die weitere Tradierung und die regionale Verbreitung des Liedes keine Aussagen machen.

INGRID BERTLEFF
(Juni 2010)



Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: Einzelbeleg aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: —
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Ich muss scheiden von den Meinen (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/ich_muss_scheiden_von_den_meinen/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 16.09.2013 02:10
 

nach oben | Impressum