A. Ich bin ein Schreiber gutgelehrt
(Ukraine 1927)
Text: anonym
| Der seltsame Wolostschreiber | ||
| 1. | Ich bin ein Schreiber gutgelehrt, | |
| Das muss mir jeder sagen. | ||
| Ich will erzählen euch, drum hört | ||
| Es wird euch wohl behagen. | ||
| Ich will erzählen euch von mir, | ||
| Vom Schreiber ohne gleichen, | ||
| Der weit und breit berücht ist hier, | ||
| Bei Armen und bei Reichen. | ||
| 2. | Die meisten nennen mich nur Laps, | |
| Und wisst ihr, warum eben? | ||
| Darum ich liebe sehr den Schnaps, | ||
| Ich lass dafür mein Leben! | ||
| Und dieser Namen ist sehr schlecht. | ||
| Ich glaube auch mit nichten, | ||
| Ich führe solchen ganz mit Recht | ||
| Und will jetzt mehr berichten. | ||
| 3. | Auch Esel werd' ich auch genannt | |
| Von vielen, vielen Leuten. | ||
| Der Namen hat in Stadt und Land | ||
| Sehr viel jetzt zu bedeuten. | ||
| Ich bin ja auch, das glaub ich mir, | ||
| Zum Esel schon geboren. | ||
| Nur fehlen, das bedauer ich mir, | ||
| Die schönen langen Ohren. | ||
| 4. | Der Titel ist mir drum ganz recht, | |
| Er passt mit mir zusammen, | ||
| Die Leute nehmen es nicht schlecht, | ||
| Die auf den Titel kamen. | ||
| Drum höret gut und merket auf: | ||
| Der Esel wird erzählen! | ||
| Er wird von seinem Lebenslauf | ||
| Das Wichtigste uns wählen. | ||
| 5. | Ich habe Grosses schon getan, | |
| Das Meiste in der Schenke. | ||
| Da bin ich stets der beste Mann, | ||
| Den man sich wohl kann denken. | ||
| Ich giesse Schnaps und Bier und Wein | ||
| In meinen leeren Magen, | ||
| Und bleibe oft wohl als ein Schwein | ||
| Dem Schenker dann zur Plage. | ||
| 6. | Das Geld das hab' ich nie geliebt, | |
| Ich liebe nur die Weiber, | ||
| Und bin, wo solche es wohl gibt, | ||
| Der erste beste Schreiber. | ||
| Wie manche liebe Russenmagd | ||
| Weiss viel von mir zu sagen! | ||
| Bei solcher bin ich jede Nacht | ||
| Und oft auch noch am Tage. | ||
| 7. | Das Geld ist nicht für meinen Sinn, | |
| Denn dieses ist ja eitel. | ||
| Dann geh ich nach der Schenke hin | ||
| Und schau in meinen Beutel. | ||
| Ist Geld darin, dann krieg ich Schnaps, | ||
| Darf gar nicht darum sorgen. | ||
| Ist aber keins, ich aber Laps, | ||
| Ich muss den Schnaps mir borgen. | ||
| 8. | Und borgt man mir den Schnaps nicht mehr, | |
| Was öfters schon geschehen, | ||
| Dann geb ich meine Mütze her, | ||
| Und auch der Rock muss gehen. | ||
| Die Hosen nimmt der Schenker auch, | ||
| Das Hemd und auch die Weste, | ||
| Ich fülle dafür auch den Bauch, | ||
| Und trinke stets aufs beste. | ||
| 9. | Die Stiefel könnt ich, armer Wicht, | |
| Noch wohl am besten missen, | ||
| Doch diese nimmt der Schenker nicht, | ||
| Sie sind zu sehr zerrissen. | ||
| Das Oberleder ist kaput, | ||
| Sie haben keine Sohlen, | ||
| Sonst wären sie dem Schenker gut | ||
| Schon längst für Schnaps empfohlen. | ||
| 10. | Galoschen hat ich auch ein Paar, | |
| Die könnten mir jetzt nützen, | ||
| Wenn's damit nicht geschehen wär | ||
| Ein Unglück in der Pfütze. | ||
| Als ich einst aus der Schenke kam, | ||
| Wo tüchtig ich getrunken, | ||
| Blieb stecken ich im tiefen Schlamm, | ||
| Und wäre bald versunken. | ||
| 11. | Mit aller Not kam ich heraus | |
| Betrunken von der Schenke. | ||
| Kam endlich dann doch noch zu Haus | ||
| Und konnte da entdecken, | ||
| Dass ein Kalosch zerrissen war, | ||
| Und eine war verloren | ||
| Im Schlamme dort. So geht's dem Narr, | ||
| So geht es solchen Toren! | ||
| 12. | Und habe auch Kaloschen nicht | |
| Dem Schenker jetzt zu geben. | ||
| Der Branntweinsquell vertrocknet nicht, | ||
| Sie frisset doch mein Leben. | ||
| Die meisten sind ja hart wie Stein, | ||
| Die trinken ja nur Wasser, | ||
| So aber soll es bei mir jetzt sein, | ||
| Ich will dasselbe wagen. | ||
| 13. | Doch Wasser, nein, das will ich nicht, | |
| Nur Branntwein will die Kehle. | ||
| Ich bin in guter Zuversicht, | ||
| Die wird mir niemals fehlen. | ||
| Ich will die Bauer gross und klein | ||
| Und einen Schnaps nur sagen, | ||
| Sie werden ja doch christlich sein | ||
| Und ihn mir nicht versagen. | ||
| 14. | Und ist der Schnaps zur Hand mir gleich, | |
| Was soll ich da erschrecken? | ||
| Ich mache alle Herzen weich | ||
| Und bitt' um fünf Kopeken. | ||
| So fleh' ich jeden guten Mann, | ||
| Den Reichen, wie den Armen, | ||
| Um Schnaps und um Kopeken an, | ||
| Und finde stets Erbarmen. | ||
| 15. | So trink ich meinen Branntewein, | |
| Doch immer alle Tage. | ||
| Weiss nichts von Sorge, Not und Pein, | ||
| Bin frei von allen Plagen. | ||
| Ich lebe, wie die Kindelein, | ||
| Ohn' Müh' und ohne Kummer, | ||
| Nur bin ich gross und sie sind klein | ||
| Und ich noch etwas dummer. | ||
| 16. | Die Schenke ist nicht stets mein Ort, | |
| Wo ich am liebsten weile. | ||
| Ich werde mich zum Heimweg dort | ||
| Auch einmal mich beeilen. | ||
| Ich scheisse mir die Hosen voll, | ||
| Und geh nicht aus der Schenke, | ||
| Dass ich sie aber waschen soll, | ||
| Das kann ein jeder denken. | ||
| 17. | Das Waschen geht erbärmlich schlecht, | |
| Am schlechtsten hat's die Nase, | ||
| Die kriegt das ihre auch mit Recht, | ||
| Der Mund, der kriegt beim Glase. | ||
| So kriegen alle beide was, | ||
| Zu schenken und zu naschen, | ||
| Der Mund beim vollen Branntweinglas, | ||
| Die Nase dann beim Waschen. | ||
| 18. | Ich möchte das letzte Hosenpaar | |
| Drum gerne noch versaufen, | ||
| Und wieder, wie ein echter Narr, | ||
| Mir fortan keine kaufen. | ||
| Ich dürfe sie dann waschen nicht, | ||
| Das kann man schon verstehen. | ||
| Drum fort damit, ich zweifle nicht, | ||
| Ja, es wird wohl noch gehen! | ||
| 19. | Potztausend es doch nicht ein, | |
| Wenn sie so arg nicht stanken, | ||
| Der Schenker ist ja nicht ein Schwein, | ||
| Der wird dafür schon danken. | ||
| So bleibt für mich denn dieser Schluss: | ||
| Ich muss die Hosen halten. | ||
| Und wenn ich sie auch waschen muss, | ||
| Ich kann sie auch verwalten. | ||
| 20. | So Leser, wie es hier gesagt, | |
| So lebe ich noch immer, | ||
| Und besser hab ich's noch nie gemacht, | ||
| Ja, doch noch oft viel schlimmer! | ||
| An Tod und Hölle denk' ich nicht, | ||
| Die krieg ich ohne Sorgen! | ||
| Um Schnaps, um Schnaps nur sorge ich | ||
| Vom Abend bis zum Morgen! | ||
Aufgezeichnet in der Kolonie Grunau, Kreis Mariupol (Ukraine) im Jahr 1927 durch Alfred Ström; Gewährsperson: nicht genannt.
DVA: DVL – M 36, Nr. 1
IRLI Handschr. Abt.: Fond 104 – 12 – 95, Veröffentlichung mit Genehmigung von IRLI RAN, Sankt-Petersburg.
Editorische Anmerkung:
Wolost (dt.: Gebiet): Verwaltungseinheit im russischen Zarenreich, den deutschen Landkreisen vergleichbar; während der sowjetischen Verwaltungsreform 1923-29 umstrukturiert und durch die Bezeichnung Rajon abgelöst.
last modified
16.09.2013 01:06