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Liederlexikon

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Das traurige Schicksal hat uns übernommen

(O du schön Saratow)

Das Rekrutenlied "Das traurige Schicksal hat uns übernommen" gehörte bis in die 1930er Jahre zum Repertoire der Wolgadeutschen. Es handelt von der Situation der in die Armee eingezogenen Männer und wurde immer wieder auf jeweils aktuelle Situationen bezogen und inhaltlich angepasst. Nach 1937 ist das Lied nicht mehr belegt.

I. Über die Entstehung und frühe Geschichte des Soldatenliedes ist nichts Genaues bekannt. Es wurde vermutlich in den Jahren nach 1874 in der Wolgaregion gedichtet, nachdem die deutschen Siedler in Russland ihre Befreiung vom Militärdienst unter Zar Alexander II. verloren hatten – eine drastische Veränderung der Lebensumstände, die damals stark die Gemüter erregte und auch in mehreren Liedern verarbeitet wurde (s. dazu auch "Das Manifest der Kaiserin" und "Kaiserin Katharina hat geschworen"). Der Liedtext, dessen ursprüngliche Form uns nicht mehr vorliegt, spiegelt die für russlanddeutsche Männer nunmehr einschneidende Lebenssituation: zum Wehrdienst verpflichtet und als Rekrut eingezogen zu werden (Edition A).

II. Überliefert ist das Lied in vier Textfassungen, die inhaltlich zum Teil stark voneinander abweichen. Sie wurden zwischen 1914 und 1937 aufgezeichnet und handeln alle von den Erfahrungen und Nöten der zum Militärdienst eingezogenen jungen Männer aus der Wolgaregion. Die ältesten Aufzeichnungen stammen von den Patres Peter Weigel und A. Baumtrog (Edition A), dem Musikwissenschaftler Georg Schünemann (Edition B 1) und dem Liedsammler Stefan Gruss (Edition B 2). Weigel und Baumtrog sammelten im Zeitraum von ca. 1914 bis 1925 in verschiedenen Dörfern der Wolgaregion Texte und Melodien russlanddeutscher Lieder. Die von ihnen notierte Fassung beginnt mit den Versen "O du schön Saratow, jetzt muß ich dich verlassen, jetzt gehen wir nach Petersburg wohl auf die hohen Straßen." (Edition A). Der Text handelt vom Abschied der russlanddeutschen Rekruten aus der Wolgaregion und ihrem künftigen Schicksal als Kavalleristen des Zaren, das in der ersten, zweiten und vierten Strophe angstvoll-pessimistisch antizipiert wird. Thematisiert wird die Abhängigkeit vom Wohl und Wehe der Vorgesetzten, die Tatsache Befehlsempfänger und Objekt geworden zu sein, sowie die Sorge um die ausreichende Erfüllung der Grundbedürfnisse. Die dritte Strophe weicht etwas von diesem sorgenvoll-wehmütigen Tonfall ab: hier werden Angst, Frustration und Empörung über die Rekrutierung der Wolgadeutschen mit Stolz über die eigenen Qualitäten kompensiert: "Ihr seid so schöne Leut, das hat den Kaiser gefreut, drum hat er uns genommen zu seiner Reiterei" heißt es da. Schünemann und Gruss machten ihre Aufzeichnungen zwischen 1915 und 1918 in Kriegsgefangenenlagern: Schünemann in Deutschland, Gruss in Österreich. Anders als die Weigel'sche Aufzeichnung beginnen diese beiden Fassungen fast identisch mit den Versen "Das traurige Schicksal hat uns übernommen, daß der russische Kaiser uns zu Soldaten hat genommen, die Reih' die war an mir, sonst könnt' ich bleiben hier. Aber ich muß scheiden, und ihr bleibet hier" (Edition B 1). Anders als in Weigels Aufzeichnung begeben sich die Rekruten in diesen beiden Texten aus der Provinz nach Saratow, dem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum der Wolgarepublik. Beide Liedfassungen enden mit einer Wendung ins Positive. Hoffnungsvoll-ironisch in Schünemanns Aufzeichnung ("Wenn kein Krieg vorhanden ist, dann gehn wir wieder nach Haus") und rassistisch-überheblich in Gruss' Niederschrift ("Die Deutschen sein getreu, die Russen han die Läus, drum hat er uns gezogen zu seiner Reiterei.").

III. Den Aufzeichnungen zufolge sind die Interpreten sowohl mit dem Text wie auch mit der Melodie von "O du schön Saratow" im Laufe der Jahrzehnte recht frei umgegangen. Die beiden aufgezeichneten Melodien weisen keine Gemeinsamkeiten miteinander auf (Edition B). Die überlieferten Liedtexte lassen darauf schließen, dass sie sowohl unbeabsichtigt – durch fragmentarische Erinnerung oder falsch gehörte Passagen – wie auch aktiv umgedichtet wurden, um sie an aktuelle Situationen und Kontexte anzupassen. Wie genau sich der Text bis zum Ersten Weltkrieg gewandelt hat, lässt sich jedoch nicht mehr rekonstruieren, da für diesen Zeitraum bislang keine Belege vorliegen. Reimstruktur, Metrum, Duktus und Topoi zeigen Anklänge an andere Rekrutenlieder und oppositionelle Soldatenlieder, die dem anonymen Verfasser möglicherweise als Inspiration gedient haben. So erinnern das Versmaß und der stellenweise sarkastische und kritische Tonfall an den "König von Preußen" (Steinitz Nr. 130), der damals auch unter Russlanddeutschen, mit an die dortigen politischen Gegebenheiten angepasstem Text, recht populär war.

IV. Bekannt war "O du schön Saratow" bzw. "Das traurige Schicksal hat uns übernommen" vermutlich in der gesamten Wolgaregion. Aus anderen russlanddeutschen Siedlungsgebieten (wie z. B. der Krim, der Ukraine oder dem Petersburger Gebiet) liegen keine Belege vor. Während des Ersten Weltkriegs war es unter den wolgadeutschen Soldaten der russischen Armee ein viel gesungenes Lied. Ein weiterer Rezeptionsstrang führt nach Argentinien, wo das Soldatenlied noch Ende der 1930er Jahre unter wolgadeutschen Einwanderern bekannt war (Edition C). Nach den 1930er Jahren ist "Das traurige Schicksal hat uns übernommen" augenscheinlich in Vergessenheit geraten. Die Armee des Kaisers und der Wehrdienst in St. Petersburg spielten weder in der stalinistisch geprägten Sowjetgesellschaft noch in der Emigration eine Rolle, der Liedinhalt war wohl schlicht unzeitgemäß geworden.

INGRID BERTLEFF
(Januar 2010)



Editionen und Referenzwerke
  • Steinitz 1954/1962, Bd. 1, S. 317 ff. (Nr. 130: O König von Preußen, du großer Potentat).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: Einzelbeleg aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: wenige Belege aus mündlicher Überlieferung
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Das traurige Schicksal hat uns übernommen (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/das_traurige_schicksal_hat_uns_uebernommen/>.


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last modified 29.09.2016 12:05
 

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