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Ach, lieber Gott, wie schwer die Zeit


"Ach, lieber Gott, wie schwer die Zeit" ist eine russlanddeutsche Soldatenklage aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Der anonym gebliebene Autor hat den Liedtext großteils in Form eines Gebets abgefasst und thematisiert darin die Angst vor dem bevorstehenden Kriegseinsatz, den Abschied von Familie und Freunden und die Hoffnung auf ein rasches Ende der Kämpfe. Alle bislang bekannten Belege stammen aus der Ukraine, wo das Lied noch zu Beginn der 1940er Jahre im Gedächtnis russlanddeutscher Siedler präsent war.

I. Verfasst wurde "Ach lieber Gott, wie schwer die Zeit" offenbar während des Ersten Weltkriegs von einem anonym gebliebenen russlanddeutschen Rekruten aus der Ukraine. Die ältesten Belege des Liedtextes stammen aus den 1920er Jahren: 1926 und 1927 wurden von dem Germanisten und Philologen Viktor Schirmunski und seinem zeitweiligen Mitarbeiter, dem Germanisten Alfred Ström, insgesamt drei inhaltlich sehr ähnliche Fassungen des Liedes in verschiedenen russlanddeutschen Siedlungen in der Ukraine aufgezeichnet (Edition A ). Der bislang jüngste Beleg aus dem Jahr 1943 ist ebenfalls eine Aufschrift aus mündlicher Überlieferung: der Volksliedsammler Albert Brosch erhielt den Liedtext von einer russlanddeutschen Frau aus der Ukraine, die damals – nach der Flucht vor der vorrückenden Sowjetarmee aus dem unter deutscher Verwaltung stehenden Teil der Ukraine – in einem Durchgangslager der Nationalsozialisten im böhmischen Marienbad lebte (Edition B). Dies ist zudem der einzige Beleg, der einen Hinweis auf die begleitende Melodie enthält: Broschs Gewährsperson sang den Liedtext auf die Weise des – auch unter den Russlanddeutschen – weit verbreiteten Soldatenliedes "Steh ich in finstrer Mitternacht" (Erk/Böhme Nr. 1426). Es ist nicht auszuschließen, dass "Ach lieber Gott, wie schwer die Zeit" auch mit anderen Melodien gesungen wurde – bei etlichen russlanddeutschen Liedern ist die Verbindung von Liedtext und Melodie recht lose und variabel – aber weitere Informationen zur musikalischen Gestaltung dieses Liedtextes fehlen bislang.

II. In seinen Strophen drückt der Verfasser des Liedes die Angst der Rekruten vor den künftigen Kampfeinsätzen aus; er beschreibt den Abschied von Familie und Freunden und das durch den Kriegszustand verursachte kollektive Leid. Der Text kulminiert in dem Wunsch nach einem baldigen Ende der Kämpfe: "Es ruft das ganze Volk mit mir, aus vollem Hals hinauf zu dir: Ach, lieber Gott, wann kommt der Tag da dieser Schreck ein Ende hat." Die Strophen sind in weiten Teilen wie ein Gebet formuliert, in dem Gott mit den Worten "Ach, lieber Gott" bzw. "Ach, großer Gott" mehrfach direkt angerufen wird. Inhaltlich ähnelt "Ach, lieber Gott, wie schwer die Zeit" damit dem Gros der russlanddeutschen Soldatenliedern, die zumeist keine stramme Kriegsbegeisterung transportieren. Stattdessen werden die Härten und Zumutungen des Krieges beklagt sowie Schutz, Trost und Sinn im christlichen Glauben gefunden.

III. Der Liedtext ist, in all diesen Fassungen, durch die Jahre hinweg relativ konsistent geblieben: Die neunstrophige Variante von 1927 (Edition A) und der zehnstrophige, 1943 aufgezeichnete Text (Edition B) sind inhaltlich im Wesentlichen deckungsgleich. Die auch hier zu findenden, für oral tradiertes Liedgut typischen Variationen in den Formulierungen, lassen den Sinngehalt der Strophen unverändert. Auslassungen finden sich in den beiden Aufzeichnungen aus dem Jahr 1926, die jedoch eher dem Erinnerungsvermögen der Gewährsperson zuzuschreiben sind und keine intendierte Umformung des Textes darstellen. Allerdings wurden die Abschiedsstrophen offenbar an individuelle Gegebenheiten angepasst: mal sind es die Freunde, von denen sich der Rekrut verabschiedet, mal Eltern, Frau und Kinder. In der Ukraine hat dieses Lied offenbar eine gewisse Verbreitung erfahren – die dortigen Aufzeichnungen stammen aus relativ weit voneinander entfernten Ortschaften. In anderen russlanddeutschen Siedlungsgebieten ist "Ach, lieber Gott, wie schwer die Zeit" jedoch nicht belegt. Bemerkenswert ist, dass dieses Lied auch während des Zweiten Weltkriegs rezipiert wurde. Russlanddeutsche Flüchtlinge aus der Ukraine hatten es als Teil ihrer immateriellen Habseligkeiten im Gepäck. Der Text passte zwar nicht mehr exakt zu deren aktueller Lebenslage, aber der Tenor dieser Kriegsklage traf wohl gut die vorherrschende Stimmung. Interessant ist, dass in dieser Fassung die erste Strophe leicht abgewandelt ist und anstelle von "Die du uns schnell vom Krieg befreit" nun "Die uns nochmals vom Krieg befreit" gesungen wurde. Die Ukrainedeutschen wurden in den sogenannten "Warthegau" umgesiedelt und gelangten von dort aus entweder weiter auf deutsches Staatsgebiet oder wurden von der russischen Armee in den Osten der Sowjetunion deportiert. Die Spur des Liedes verliert sich an dieser Stelle und es ist bislang unklar, welchen Weg seine weitere Rezeption genommen hat.

INGRID BERTLEFF
(August 2010)



Editionen und Referenzwerke
  • Erk/Böhme 1894, Bd. 3, S. 286 (Nr. 1426) (zu: "Steh ich in finstrer Mitternacht").

Weiterführende Literatur
  • Ingeborg Fleischhauer: Im Räderwerk zweier totalitärer Systeme. Die nationalsozialistische Variante. Im "Menscheneinsatz Ost" 1941–1945. In: Benjamin Pinkus, Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert. Baden-Baden: Nomos 1987, S. 207–302.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: wenige Belege aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: —
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig)) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Ach, lieber Gott, wie schwer die Zeit (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/ach_lieber_gott_wie_schwer_die_zeit/>.


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last modified 06.03.2017 10:22
 

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