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You are here: Home Lieder So hab' ich es nach langen Jahren Edition A: Georg Herwegh 1844
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A. So hab' ich es nach langen Jahren

(Georg Herwegh 1844)


Text: Georg Herwegh (1817–1875) und Franz Dingelstedt (1814–1881)

Scan der Editionsvorlage
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Wohlgeboren und Hochwohlgeboren.

Von
zwei deutschen Dichtern in Paris.

I. Wohlgeboren.
 
1.  So hab' ich es nach langen Jahren
Zu diesem Posten noch gebracht,
Und leider nur zu oft erfahren
Wer hier im Land das Wetter macht.
Du sollst, verdammte Freiheit! mir
Die Ruhe fürder nicht gefährden:
Lisette, noch ein Gläschen Bier!
Ich will ein guter Bürger werden. |[S. 55]
 
2. Auch ich sprach einst vom Vaterland
Und solchen sonderbaren Dingen,
Ich trug mein schwarzrothgolden Band
Und ließ die Sporen furchtbar klingen:
Doch, selig wer im Gleise geht
Und still im Joche zieht auf Erden –
Was hilft die Genialität?
Ich will ein guter Bürger werden.
 
3. Diogenes vor seiner Tonne –
Vortrefflich, wie beneid' ich ihn!
Es war noch keine Julisonne,
Die jenen Glücklichen beschien.
Was Monarchie? was Republik?
Wie sich die Leute toll geberden!
Zum Teufel mit der Politik!
Ich will ein guter Bürger werden. |[S. 56]
 
4. Gewiß, man tobt sich Einmal aus –
Es wär' ja um die Jugend schade –
Doch, führt man erst sein eigen Haus,
So werden Fünfe plötzlich grade.
In welcher Mühle man uns mahlt,
Das macht uns nimmer viel Beschwerden:
Der ist mein Herr, der mich bezahlt –
Ich will ein guter Bürger werden.
 
5. Jedwedem Umtrieb bleib' ich fern,
Der Henker mag das Volk beglücken!
Ein Orden ist ein eigner Stern,
Wer einen hat, der soll sich bücken.
Bück' dich, mein Herz! bald fahren wir
Zur Residenz mit eignen Pferden;
Lisette, noch ein Gläschen Bier!
Ich will ein guter Bürger werden.|[S. 57]
 
 
II. Hochwohlgeboren.
                              Justum et tenacem propositi virum –
                                                           HORATIUS
 
1. Ein guter Bürger willst du werden?
Pfui, Freund! – Ein guter Bürger – du?
Das also war dein Ziel auf Erden?
Dem stürmten deine Lieder zu?
O, nimm's zurück, das ekle Wort!
Wer mag sich so gemein geberden?
Nein, nein, mich reißt es weiter fort:
Ich muß Geheimer-Hofrath werden! |[S. 58]
 
2. Um meine Wiege sah die Amme
Schon frühe den Prophetenschein,
Und in mir diese ew'ge Flamme,
Sie kann, sie darf nicht Lüge sein.
Bleib' du im Thal, wo dir's behagt,
Und grase mit den Pöbelheerden,
In mir steht fest, was ich gesagt:
Ich muß Geheimer-Hofrath werden!
 
3. Daß unsre Wege so sich theilen,
Glaub' mir, Georg! es thut mir weh;
Du gehst zum Bier: und ich derweilen
Zu einem Oberappellationsgerichtsvicepräsidenten-Thee.
Du hast erfüllt dein stilles Loos,
Das meine liegt noch den Behörden
Der dunkeln Zukunft schwer im Schooß:
Ich muß Geheimer-Hofrath werden! |[S. 59]
 
4. So Mancher hat's doch schon erreicht,
Der höher noch als ich gedachte,
Der krummer seinen Vers vielleicht
Und krummer seinen Rücken machte.
Was Einer kann, das kann auch Ich! – –
Und, trotz Gefährden und Beschwerden,
Schwör' ich's – St. Huber, höre mich! –
Ich muß Geheimer-Hofrath werden!
 
5. Sieh: ein Logis im ersten Stocke,
Recht weit und reich, mit Maß geheizt,
Ein Kreuzchen auf dem schwarzen Rocke,
Das sich kokett versteckt und spreizt,
Ein Chaischen, ein Livreechen drauf,
Und fährt's auch mit Fiacre-Pferden –
Bruder! die Seele geht mir auf: –
Ich muß Geheimer-Hofrath werden! |[S. 60]
 
6. Noch lebt ein Gott: Verdienst zu lohnen,
Noch steht manch edles Fürstenhaus;
Gott theilt den Fürsten ihre Kronen:
Die Fürsten uns die Titel aus.
Gewiß, gewiß! ich find' es noch
Mein letztes Ziel auf dieser Erden;
Wär's nur um Voigtens Nekrolog: –
Ich muß Geheimer-Hofrath werden!


[Georg Herwegh] Gedichte eines Lebendigen. Zweiter Band. Zürich und Winterthur: Verlag des literarischen Comptoire 1844, S. 54–60.
DVA: B 50328

Dort folgende Autorenangaben: zu I. Wohlgeboren "G.H.", zu II. Hochwohlgeboren "Hofrath Franz Dingelstedt (NB. Paris, Nov. 1841)".


Editorische Anmerkung:
Neben der Erstveröffentlichung im "Telegraph für Deutschland" (Febr. 1842, Nr. 33, S.129) ist von Herweghs Gedicht in seinem Nachlass auch das Manuskript erhalten. Zu den Lesarten und Varianten siehe ausführlich: Georg Herwegh. Gedichte 1835–1848. Bearbeitet von Volker Giel (= Georg Herwegh: Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Hrsg. von Ingrid Pepperle. Band 1). Bielefeld: Aisthesis Verlag 2006, S. 116–119 und S. 513–518; hier S. 514.
Auch Franz Dingelstedt fasste die beiden Texte als eine Gesamtdichtung auf und nahm sie später in der Gesamtausgabe seiner Werke unter die "Gedichte eines kosmospolitischen Nachtwächters" (1877) auf.
Neben der Übernahme des Versmaßes und der Adaption der Refrainzeile von Pierre Jean de Bérangers Gedicht ("Je me fait poète de cour") findet sich in Herweghs Gedicht eine weitere Anspielung auf Béranger durch den Gebrauch des Namens "Lisette". Hatte Herwegh zunächst im "Telegraph" noch den Namen "Marie" verwendet (wie auch Béranger in "Le poète de cour"), so veränderte er dies bei der Publikation im Gedichtband in "Lisette" – eine subtilere Anspielung auf den französischen Dichter, der diesen Namen gern benutzte, um einfache, gewitzte Mädchen zu bezeichnen (vgl. beispielsweise "La Vertu de Lisette"); siehe dazu auch die Erläuterungen von Volker Giel (wie oben, v.a. S. 515–517).
last modified 29.09.2016 11:25
 

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