Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen
Das historische Ereignislied "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" ist das bekannteste russlanddeutsche Lied, das die Auswanderung der deutschen Siedler von der Wolga nach Amerika thematisiert. Wahrscheinlich ist es in den Jahren um 1877 im Zuge der wolgadeutschen Emigrationswelle nach Brasilien entstanden. Herkunft und Autorschaft des Liedes liegen jedoch ebenso im Dunkeln wie seine ursprüngliche Funktion: Unklar ist, ob es sich dabei anfangs um ein Werbelied für die Auswanderung handelte oder aber um ein Spottlied der Daheimgebliebenen über den rasch gescheiterten Ansiedlungsversuch in Brasilien, welcher letztlich für viele tausend Auswanderer im Fiasko endete. Die bislang bekannten Quellen zu dem Lied stammen nämlich erst aus deutlich späteren Jahren. Sie veranschaulichen, dass "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" in den russlanddeutschen Siedlungen bis in die 1920er Jahre als mündlich tradiertes Lied verbreitet war. In Argentinien und Brasilien wurde es dagegen erst ab 1927/28 – im Kontext der Feierlichkeiten um die Einwanderungsjubiläen – zu einem prominenten Erinnerungsträger der Russlanddeutschen in Südamerika. Im Zuge der volkskundlich inspirierten Publizistik über die Geschichte der Russlanddeutschen avancierte das Lied in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich zum paradigmatischen Auswandererlied der Russlanddeutschen.
I. "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" stammt aus den deutschen Siedlungen an der Wolga und ist vermutlich in den Jahren zwischen 1876 und 1879 entstanden. Den Hintergrund dazu bildete die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für die Russlanddeutschen (1874). Dieses Ereignis setzte eine Emigrationswelle nach Nord- und Südamerika in Gang, wobei die wolgadeutsche Brasilien-Auswanderung der Jahre 1877/78 sich innerhalb kürzester Zeit als Fehlschlag erwies: Bereits 1879 kamen – von rund 8.000 nach Brasilien emigrierten Kolonisten – rund 1.500 Auswanderer wieder zurück nach Russland. Da die russische Regierung daraufhin die weitere Remigration unterband, zogen die meisten Siedler von Brasilien nach Argentinien weiter. In diesem historischen Kontext ist die Entstehungsgeschichte des Liedes "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" zu verorten. Nähere Informationen dazu liegen jedoch nicht vor, so dass offen bleiben muss, ob es sich ursprünglich um ein Lied handelte, das Haltung und Intentionen der Auswanderer artikulierte oder das als spöttische Replik der Auswanderungsgegner das Scheitern des Unternehmens kommentierte. Die früheste Veröffentlichung des Liedes findet sich erst 1914 – also über dreißig Jahre nach seiner Entstehungszeit – in der ersten wolgadeutschen Volksliedsammlung (Edition B). Diese Liedversion ist jedoch – wie spätere Feldforschungs-Aufzeichnungen (Edition C) zeigen – eher untypisch für die Liedtradierung (s. unten IV. und V.). In Südamerika sind die frühesten Belege zu diesem Lied erst in den Jahren 1927/28 anzutreffen (Edition D). Die bislang älteste Quelle für "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" stellt ein handschriftliches Liederbuch aus Privatbesitz dar, das erst in jüngster Zeit zu Forschungszwecken genutzt werden konnte. Der dazugehörende Titel kennzeichnet den Text nicht als Lied der Auswanderer, sondern als eines über sie: "Ein Lied über die deutschen Auswanderer aus Rußland am Wolgastrom nach Amerika" (Edition A).
II. Das Lied "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" thematisiert den Auswanderungswunsch wolgadeutscher Kolonisten in der Zeit nach 1874. Als Grund für die Auswanderung wird im Text explizit die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für die Russlanddeutschen genannt: "Hier können wir jetzt nicht mehr leben, / Weil wir müssen Soldaten geben" (Str. 2, Edition A). Demgegenüber wird eine Emigration nach Brasilien als erstrebenswertes Ziel formuliert, was der Auswanderungseuphorie an der Wolga in den Jahren 1877/78 entsprach. Unklar ist dagegen, welche Funktion dieses Lied damals hatte. Im Folgenden wird die These vertreten, dass "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" anfänglich ein Lied der Auswanderungswilligen gewesen ist, das jedoch schon kurze Zeit später in der Wolgaregion zu einem ironischen Gesang über das Scheitern des Ansiedlungsversuchs in Brasilien umfunktioniert wurde. Welche Gestalt das Lied als ursprünglich zuversichtliches Auswandererlied gehabt haben könnte, veranschaulicht eine 1928 in Argentinien veröffentlichte Liedfassung (Edition D). Der Text benennt die wesentlichen Aspekte des Auswanderungsvorhabens: gemeinsamer Aufbruch, geregelte Passangelegenheiten und Ziel der Reise (Str. 1), finanzielle Rahmenbedingungen und Billigung durch die zaristische Obrigkeit (Str. 2), Emigrationsgrund (Str. 3), Vertrauen auf Gottes Schutz während der langen Seereise (Str. 4), Hoffnung auf eine gute Ankunft in der neuen Heimat (Str. 5/6). Diese Liedfassung ist in der vorliegenden Überlieferung indes singulär. In allen anderen verfügbaren Quellen enthält der Liedtext immer auch Passagen, die nicht zu einem ermutigenden Auswandererlied passen. Vor allem sind dies Verse, welche die Schattenseite der Brasilienauswanderung 1877/78 ansprechen; insbesondere der Verlust von Hab und Gut kommt durchweg zur Sprache (z. B. Edition A, Str. 4). Dies legt die Vermutung nahe, dass "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" schon damals rasch auch mit kritischen Bedeutungen aufgeladen wurde.
III. Gestützt wird diese Vermutung durch weitere Aspekte der Textüberlieferung. Es fällt auf, dass die Verhältnisse im Zielland Brasilien meist übertrieben positiv dargestellt werden: den Auswanderer erwarten dort angeblich "die schönsten Häuser", ein Empfang mit "Wein und Bier" durch den brasilianischen "Kaiser", ein reiches Angebot an Früchten und Trauben, die dort "an den Bäumen" wachsen (z. B. Edition C, Str. 7–9). Dies steht nicht nur in krassem Gegensatz zu den tatsächlichen Erfahrungen der wolgadeutschen Brasilienemigranten 1877/78 (s. Hollatz 1997/98). Solche Schlaraffenland-Bilder gibt es vielmehr im Bereich der allgemeinen Auswanderungslyrik immer wieder und in der Regel sind sie kennzeichnend für die Argumentationsstrategie von Seiten der Auswanderungsgegner, die mit solchen fantastischen Übertreibungen die großen Hoffnungen und den festen Glauben der Auswanderungswilligen an eine bessere Zukunft im fremden Land als kindliche Naivität karikieren und entlarven möchten. Im vorliegenden Fall stellte sich schon bald heraus, dass die Skepsis der Gegner berechtigt gewesen war. Die Daheimgebliebenen konnten sich durch das Fiasko, das die vielen Rückkehrer erlebt hatten, in ihrer Haltung bestätigt fühlen und artikulierten dies auch in Form von Spottliedern, wie das Lied "Es waren fünf Kolonien" beispielhaft zeigt. Insofern scheint es naheliegend zu sein, dass auch das ursprüngliche Auswanderungslied "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" im Angesicht der ernüchternden Verhältnisse durch zusätzliche Strophen erweitert und in seinen Intentionen umfunktioniert wurde. Dieser Annahme korrespondiert auch die geographische Herkunft der frühen Dokumente zur Liedtradierung (bis 1930): sie stammen überwiegend aus der Wolgaregion und von der Krim, während südamerikanische Quellen erst ab 1927 bekannt sind. Warum aber sollte man ausgerechnet im Kreis der im Russischen Reich verbliebenen deutschen Kolonisten ein Lied aus dem Repertoire der Weggegangenen tradieren? Offenbar blieb das "Brasilienlied" in Russland vor allem als ein kritisch-ironischer Gesang in Erinnerung – während die Ausgewanderten in Südamerika dieses (mit den prekären Anfangsjahren verknüpfte) Lied zunächst anscheinend eher verdrängten.
IV. Während die Anfänge der Liedgeschichte weitgehend im Dunkeln liegen, werden ihre Konturen ab der ersten Veröffentlichung 1914 (Edition B) zunehmend klarer. Hierbei zeigt sich, dass "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" über dreißig Jahre nach den Ereignissen nurmehr der damaligen Erlebnisgeneration bekannt war, wobei die Varianz der Überlieferung gleichermaßen auf seine ehemalige Verbreitung wie auf die zwischenzeitlich eingetretenen Erinnerungslücken verweisen. Schon bei der ältesten erhaltenen Quelle zu diesem Lied handelt es sich um eine unvollständige Version (Edition A). Im aktiven Liedrepertoire der Wolgadeutschen spielte "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" 1914 keine große Rolle mehr. Aber die danach einsetzende – zumeist volkskundliche – Sammlungstätigkeit förderte weitere Liedvarianten zutage, die seine regionale Verbreitung veranschaulichen und somit auch den besonderen Stellenwert, den dieses Lied im ausgehenden 19. Jahrhundert im russlanddeutschen Liedrepertoire offenbar innehatte. Besonders aufschlussreich für die Rekonstruktion des Liedtextes sind dabei Aufzeichnungen, die um 1927 von der Petersburger Germanistin Ellinor Johannson auf der Krim gemacht wurden (Edition C). Hierbei zeigt sich, dass in der damaligen Liedüberlieferung die verschiedenen Facetten der Emigrationserfahrung amalgamiert worden waren: die Intentionen der Auswanderer ebenso wie ihre schlechten Erfahrungen und die Traumbilder von einem besseren Leben in Amerika. In dieser vielschichtigen Form war das Lied zu einem musikalischen Begleiter geworden, der zum einen die Erinnerung an die konkrete historische Ausgangslage tradierte, zugleich aber auch den weiterhin bestehenden Auswanderungsbestrebungen der Russlanddeutschen korrespondierte. Mit dieser Gemengelage begleitete das Lied auch spätere wolgadeutsche Auswanderer vor dem Ersten Weltkrieg, sei es nach Übersee – oder in benachbarte Länder. Besonders in der rumänischen Dobrudscha hat sich "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" noch längere Zeit im Liedrepertoire der Deutschen gehalten (Edition F).
V. Mit seiner Veröffentlichung als wolgadeutsches "Volkslied" durch Johannes Erbes und Peter Sinner (Edition B) setzte 1914 eine neue Etappe in der Geschichte von "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" ein. Denn nun veränderten sich die Tradierungsformen zunehmend: dominierte bis dahin eine vorwiegend mündliche Überlieferung des Liedes, so wurde in den Jahrzehnten danach der Text vielfach in der Fassung des ersten Lieddrucks in andere Publikationen übernommen. Somit entwickelte sich ein gegenläufiger Rezeptionsprozess, der für dieses Lied im 20. Jahrhundert insgesamt charakteristisch werden sollte: Einerseits ermöglichten die verschiedenen volkskundlichen Liedaufzeichnungen – zumal die Feldforschungen der 1920er Jahre – eine Differenzierung des historischen Erscheinungsbildes dieses Liedes. Gleichzeitig bewirkte die zunehmende Reproduktion der Druckfassung von 1914 eine tendenzielle Standardisierung dieser (nicht repräsentativen) Textversion im publizistischen Gebrauch.
VI. In den Jahren 1927/28 tritt das Lied erstmals auch unter den Russlanddeutschen in Südamerika sichtbar in Erscheinung: im Kontext der Feierlichkeiten um die 50jährigen Jubiläen der russlanddeutschen Einwanderung nach Brasilien (1927) und Argentinien (1928) erschienen drei Festschriften, die alle drei "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" als prominentes geschichtliches und volkskundliches Zeugnis enthalten (Edition D). Während zuvor eine Tradierung des Liedes in Südamerika nicht erkennbar ist, fand "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" nunmehr unter den Russlanddeutschen in Argentinien stärkere Resonanz. Es inspirierte das um 1930 entstandene "Chaco-Lied", mit dem Russlanddeutsche eine Neuansiedlung in der Chaco-Regio im Norden Argentiniens ironisch kommentierten (Hailer-Schmidt 2004), und es ging auch in das von Thomas Kopp 1937 in Buenos Aires herausgebrachte "Russlanddeutsche Liederbuch" ein (Edition E). In der Folge wurde "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" in der Literatur über die Russlanddeutschen in Argentinien zu einem identitätsstiftenden Symbol ihrer Herkunft.
VII. "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" ist eines der wenigen traditionellen Lieder der Russlanddeutschen, das im 20. Jahrhundert über einen längeren Zeitraum und geographisch weit gestreut als "Volkslied" in Erinnerung geblieben ist: in Südamerika ebenso wie in Deutschland, in Kasachstan, an der Wolga oder in den USA. Einen wichtigen Anteil daran hatte die volkskundlich orientierte Forschung und Publizistik (Bertleff/John 2013). In deren Fahrwasser wurde "Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen" als das signifikante Auswanderungslied schlechthin zu einem markanten Erinnerungsträger russlanddeutschen Selbstverständnisses.
ECKHARD JOHN
(Dezember 2014)
Literatur
- Ingrid Bertleff, Eckhard John: Vexierbilder der Erinnerung. Lieder zur russlanddeutschen Brasilien-Auswanderung. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 54 (2013), S. 66–84.
- Annette Hailer-Schmidt: "Hier können wir ja nicht mehr leben". Deutsche Auswandererlieder des 18. und 19. Jahrhunderts. Hintergründe, Motive, Funktionen. Marburg 2004, S. 138–154; zum "Chaco-Lied" S. 117–121.
- Gottfried Habenicht: Das Brasilienlied. Monographische Skizze eines rußlanddeutschen Auswanderungsliedes. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 22 (1979), S. 227–278.
Weiterführende Literatur
- Detlef D. Hollatz: Die Auswanderung von Kolonisten nach Südamerika. In: Forschungen zur Kultur und Geschichte der Rußlanddeutschen 7 (1997), S. 165–186 und 8 (1998), S. 39–49.
Quellenübersicht
- Ungedruckte Quellen: vergleichsweise häufige Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
- Gedruckte Quellen: sehr selten in Gebrauchsliederbüchern, viele sonstige Rezeptionsbelege
- Bild-Quellen: —
- Tondokumente: verschiedene Tonaufzeichnungen (Phonogramm- und Tonbandaufnahmen)
Zitiervorschlag
Eckhard John: Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen (2014). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/kommt_ihr_brueder_wir_wollen_ziehen>.
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