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Kameraden, wir marschieren


Das Fahrtenlied "Kameraden, wir marschieren" stammt aus der bündischen Jugendbewegung. Es wurde 1932 von Jürgen Riel geschrieben und fand rasch Eingang ins Repertoire der Jugendliederbücher. Obwohl der Autor des Liedes von den NS-Behörden verfolgt wurde, war sein Lied ungebrochen in zahlreichen nazistischen Liederbüchern vertreten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg begleitet das Lied Pfadfinder und Jugendgruppen bis in die 1970er Jahre.

I. Der Liedautor Jürgen Riel (1906–1981) kam aus der Jugendbewegung in Schlesien. Er war Mitglied des Wandervogels Hirschberg, der "Schlesischen Jungmannschaft" sowie der "Deutschen Freischar". Riel hatte Jura studiert, schrieb Jugendbücher, Kurzgeschichten und verschiedene bündische Lieder. Sein Fahrtenlied "Kameraden, wir marschieren" veröffentlichte er 1932 erstmals in der Pfadfinder- und Wandervogel-Zeitschrift "Spur" (Edition A).

II. Der titelgebende Liedanfang "Kameraden, wir marschieren" signalisiert bereits Kern und Intention des Liedes: als Gesang mit den "Kameraden" konnte es beim Wandern ihr "Wir"-Gefühl als Gruppe zum Ausdruck bringen. Die "Wir"-Form beherrscht den Liedtext, der ein für die bündische Jugend typisches Fernweh spiegelt: fremdes Land, fremde Sterne, fremde Meere und fremde Welten werden in den drei Strophen als Bezugspunkte jugendlicher Sehnsucht benannt. Auch die weiteren erwähnten Accessoires – Speere, Zelte, Feuer und Fahnen – verorten den Text eindeutig in der Lebenswelt der Jugendbewegung. Besonders bezeichnend dafür heißt es im Refrain der ersten Strophe: "Laßt die bunten Fahnen wehen!". Just dieses Bild sollte zum Ausgangspunkt eines der bekanntesten jugendbewegten Fahrtenlieder des 20. Jahrhunderts werden: "Wenn die bunten Fahnen wehen" – zur gleichen Zeit entstanden (ebenfalls 1932), aber an anderem Ort (im Nerother Wandervogel).

III. Das Lied wurde innerhalb der Jugendbewegung rasch aufgegriffen und erschien ab 1933 auch in Liederbüchern. Den Anfang machte "Die weiße Trommel. Ein Liederbuch für deutsche Jungmannen und Jungen" (Potsdam 1933). Wenig später folgte mit "Lieder der Spur" (Potsdam 1934) eine Liedsammlung jener Zeitschrift, in der Riel sein Lied zuerst veröffentlicht hatte (Edition A). Ebenfalls 1934 ist "Kameraden, wir marschieren" auch von katholischer wie von nazistischer Seite übernommen worden: es war in "Das Singeschiff. Lieder deutscher katholischer Jugend" (Düsseldorf 1934) ebenso enthalten wie im NS-Liederbuch "Wohlauf Kameraden!" (Kassel 1934). Die NS-Übernahme wurde dort mit dem Hinweis legitimiert: "mündlich aus der schlesischen Hitlerjugend und dem Kameradschaftshaus Schlageter in Leipzig überliefert"; diese Angabe wurde im Jahr darauf vom Schulliederbuch "Nimmer zurück! Vorwärts den Blick" (Oldenburg 1935) übernommen. Ebenfalls 1935 geriet indes der Liedautor Jürgen Riel, der in Berlin als Gerichtsassessor arbeitete, ins Fadenkreuz der NS-Behörden. Es gelang ihm, sich einer Verhaftung zu entziehen und ins Ausland zu fliehen (Meinhard 2000). Sein Lied blieb jedoch weiterhin unangefochten im Repertoire des "Dritten Reiches". Es erschien 1937 auch in Ernst Fuhrys "Sportbuch des deutschen Jungen", das er für den Deutschen Fußball-Bund unter dem Titel "Kampf und Sieg, Junge!" (Berlin 1937) herausbrachte. Während Riel die Naziherrschaft in der Emigration überstand, wurde "Kameraden, wir marschieren" bis in die Kriegsjahre in etlichen NS-Liederbüchern weiter verbreitet.

IV. Die zwiespältige Karriere des Liedes in den Jahren der NS-Herrschaft beruhte wesentlich auf der Doppeldeutigkeit der titelgebenden Eingangsformel "Kameraden, wir marschieren". War für die Pfadfinder das "marschieren" zunächst primär ein Synonym für "wandern" gewesen, so ließ sich dieses Motto ebenso im Sinne von Gleichschritt und Marsch ins "Dritte Reich" interpretieren. Dementsprechend fand es damals auch als Titel für Liederbücher Verwendung, etwa beim National-sozialistischen Lehrerbund: "Kameraden, wir marschieren. Lieder der Sommerlager des NSLB" (Stuttgart 1935) oder bei der Sammlung "Kameraden, wir marschieren. Lieder des jungen Deutschland für Klavier" (Kassel 1935). Für die Hitler-Jugend schrieb der Autor Heinz Grunow 1936 ein neues Lied, das den Marsch-Slogan vollends den NS-Bedürfnissen anpasste: "Kamerad, wir müssen nun marschieren". Die offene Mobilmachung folgte im Lied der militärischen auf dem Fuß: "Kamerad, wir marschieren im Westen" lautete das sogenannte "Frankreichlied" von Herms Niel, das eine ähnliche Stoßrichtung hatte wie "Kameraden, wir marschieren, in die neue Zeit hinein", auch dies ein Lied für die deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg, dessen Autor Hermann Völkers umstandslos bekannte: "Adolf Hitler soll uns führen, wir sind stets zum Kampf bereit".

V. Unbesehen dieses Umfeldes ist Jürgen Riels "Kameraden, wir marschieren" nach dem Ende der Nazi-Herrschaft ungebrochen ins Milieu der Pfadfinder und kirchlichen Jugendgruppen übernommen worden. Nun erst konnte das Lied jene Bedeutungsebenen entfalten, die unter NS-Bedingungen verschüttet worden waren: die Sehnsucht nach einer Welterfahrung ohne Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit ("Kameraden, fremde Welten / singen leis von unserm Land", Str. 3). Als Fahrtenlied fand es Aufnahme in die damals einflussreichen Liedsammlungen wie "Bruder Singer" (Kassel 1951), "Der Turm" (Teil IV, Bad Godesberg 1955) und "Die Mundorgel" (Waldbröl 1965) – aber auch in verschiedene Liederbücher der Bundeswehr. Für den rechtskonservativen Publizisten Armin Mohler galt das Lied rückblickend als jenes, "das am schönsten die Stimmung der bündischen Welt wiedergibt" (Mohler 1972). Sein Stellenwert als aktiv gesungenes Gruppenlied ist seit den 1970er Jahren jedoch im Schwinden. Bei Ernst Klusens Untersuchung "Zur Situation des Singens in der Bundesrepublik Deutschland" zeigte sich, dass "Kameraden, wir marschieren" Anfang der 1970er Jahre bereits zu den "nicht so beliebten" Liedern zählte und "nicht so häufig" gesungen wurde (Klusen 1975). Es blieb weitgehend ein Lied der bündischen Jugendbewegung, das in der Zeit der neuen Liedermacher und des Folkrevivals keine nennenswerte Rolle mehr spielte. Auch der Versuch von Verlagsseite, das Lied 1981 als ein im NS-Staat angeblich "verbotenes" zu profilieren (Edition B), änderte daran nichts.

ECKHARD JOHN
(März 2013)



Weiterführende Literatur
  • Ursula Meinhard: Ich ahne nun, daß die Luft ganz dick ist. Ein Gerichtsassessor unter Verdacht. 1935. In: Andreas Pretzel, Gabriele Roßbach: Wegen der zu erwartenden hohen Strafe… Homosexuellenverfolgung in Berlin 1933–1945. Berlin: Rosa Winkel 2000, S. 187–193.
  • Jürgen von der Trappe: Die Schlesische Jungmannschaft in den Jahren von 1922 bis 1932. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung. Diss. Essen 1996.
  • Ernst Klusen: Zur Situation des Singens in der Bundesrepublik Deutschland. II. Die Lieder. Köln 1975 (Zitat S. 71f.).
  • Armin Mohler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. 2. erw. Aufl. Darmstadt 1972 (Zitat S. 155).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: häufig in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Eckhard John: Kameraden, wir marschieren (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/kameraden_wir_marschieren/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 31.12.2013 05:26
 

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