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Geh aus mein Herz und suche Freud


Das bis in die Gegenwart populäre geistliche Lied wurde Mitte des 17. Jahrhunderts von dem evangelischen Theologen Paul Gerhardt (1607–1676) verfasst. Als "Sommergesang" besingt es die Schönheiten der Natur und verweist zugleich auf den jenseitigen "Himmelsgarten". Es gehört zu den populärsten Liedern des evangelischen Kirchengesangs. Außerhalb des Gottesdienstes wurde es seit dem 19. Jahrhundert auch als Natur- und Wanderlied verbreitet.

I. Paul Gerhardts "Sommergesang" besteht aus drei Teilen: In den ersten sieben Strophen werden Naturbilder breit ausgeführt und als Gaben Gottes gekennzeichnet. Die Strophen acht bis elf verweisen auf den Himmel, der als Garten Christi alle irdischen Schönheiten überbietet. Die letzten Strophen wenden die Naturbilder zunächst ins Ethische, dann wieder ins Eschatologische: Der Sänger bittet darum, dass die "Glaubensfrücht" bis zur Vollendung wachsen mögen. Die mehrdimensionale Naturmetaphorik geht auf die Bibel zurück, insbesondere auf die Paradiesvorstellung und die mit Naturbildern arbeitenden Reich-Gottes-Gleichnisse Jesu. Ferner ist auf die Tradition der eschatologisch ausgedeuteten Sommermetaphorik zu verweisen, etwa in Liedern wie "Hertzlich thut mich erfrewen / die liebe Sommerzeit" von Johann Walther oder "Gott lob, es ist vorhanden / die frölich Sommerzeit" von Bartholomäus Ringwald.

II. Gedruckt wurde das Lied erstmals 1653 im musikalischen Andachtsbuch "Praxis Pietatis Melica" mit der Melodiezuweisung "Den Herrn meine Seel erhebt". 1667 hat es dann der Kirchenmusiker Johann Georg Ebeling (1637–1676) in die Sammlung "Pauli Gerhardi Geistliche Andachten" aufgenommen, die als erste Gesamtausgabe gilt. Ebeling hat die Lieder dort mit einem vierstimmigen Vokalsatz (Edition A) versehen, zu der zwei Violinen hinzutreten können. In Kirchengesangbüchern wurde auch diejenige Weise breit rezipiert, die zuerst 1704 im Gesangbuch von Freylinghausen, einer pietistischen Publikation, veröffentlicht wurde (Edition B). Bis ins 19. Jahrhundert folgten noch etliche andere Melodieschöpfungen. Wie bei vielen Paul-Gerhardt-Liedern lässt sich auch bei "Geh aus, mein Herz" eine durchgängige Rezeption in Kirchengesangbüchern vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart ausmachen.

III. In der Zeit der Aufklärung wurden Gerhardts Lieder zum Teil weitertradiert, zum Teil aber auch erheblich umgearbeitet. Ein Beispiel ist die Fassung "Ihr Kinder Gottes suchet Freud / in dieser Pracht der Sommerszeit" (Edition C), die Johann Heinrich Rolle vertont hat (Halle 1775). Anstelle von Gerhardts Sommergesang wurden in der Aufklärung jedoch oft auch andere, modernere Naturlieder bevorzugt, etwa das "Lied im Sommer" von Balthasar Münter (1735–1793), vertont von Johann Christoph Friedrich Bach.

IV. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Gerhardts Lied – auf neun Strophen verkürzt – zunächst in die Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" (Heidelberg 1808) aufgenommen (Edition D). Diese Publikation stieß eine neuartige Rezeption des Liedes an; es begann, sich vom geistlichen Kontext zu lösen. So wurde der Gesang etwa 1822 im Liederbuch "Wandervögelein oder Sammlung von Reiseliedern" abgedruckt und von Josef Gersbach (1787–1830) im vierstimmigen Satz vertont (Edition E). Diese Rezeptionslinie außerhalb der Gesangbuchtradition wurde im 19. Jahrhundert durch Ludwig Erks prominente Sammlung "Germania" fortgesetzt (Berlin 1868), welche ebenfalls die Melodie von Gersbach enthält. Auch das 1946 entstandene Illustrationswerk "Geh aus mein Herz" von Wolfgang Felten (Abb. 1) betont den Zusammenhang zwischen Lied und Natur; dabei werden die eschatologischen Aspekte ganz, die religiösen partiell zurückgedrängt.

V. Die heute verbreitete Weise stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert: Augustin Harder (1775–1813) hatte zu dem Frühlingslied "Die Luft ist blau, das Tal ist grün" von Ludwig Hölty eine Melodie geschaffen, die 1836 durch den Organisten Friedrich Heinrich Eickhoff (1807–1880) dem Text von Gerhardt angepasst wurde. Harders Weise setzte sich sowohl in geistlichen wie weltlichen Liederbüchern jedoch erst im Laufe des 20. Jahrhunderts durch und verdrängte damit auch diejenige von Gersbach (Edition F).

VI. Als Naturlied wurde "Geh aus, mein Herz" im 20. Jahrhundert insbesondere von der Jugendbewegung rezipiert und später sogar in Sammlungen wie dem gewerkschaftlich orientierten Liederbuch "Brüder zur Sonne zur Freiheit" (Köln 1974) aufgenommen. Ausgehend von der Umweltproblematik im ausgehenden 20. Jahrhundert entstanden Parodien, welche die Naturschilderungen Gerhardts ins Negative wenden und damit eine politische oder religiös-ethische Mahnung verbinden (Edition G). Ein höchst eigenwilliges Rezeptionszeugnis stellt die Parodie "Geh aus mein Herz oder Robert Gernhardt liest Paul Gerhardt während der Chemotherapie" aus dem Jahr 2006 dar. In dieser Aneignung des Liedes setzt sich der Autor mit seiner Krebserkrankung auseinander und wendet die Naturbilder Gerhardts ebenfalls ins Negative. Eine markante kunstmusikalische Verarbeitung im 20. Jahrhundert stammt von Rudolf Mauersberger: In seiner "Geistlichen Sommermusik" (1948/1960) für Soli, zwei gemischte Chöre und Orgel greift er ebenfalls auf den Gerhardt-Text zurück.

VII. Innerhalb der kirchlichen Tradition blieb das Lied auf den evangelischen Bereich beschränkt – obwohl es hierfür keinen offensichtlichen theologischen Grund gibt. Der Abdruck in der katholischen Sammlung "Kirchenlied" von 1938 stieß keine Rezeption innerhalb des Katholizismus an – im Gegensatz zu vielen anderen darin enthaltenen Liedern evangelischer Tradition. Freilich wird das Lied mittlerweile auch im katholischen Milieu gesungen, besonders bei Trauungen, die im Sommer stattfinden.

MICHAEL FISCHER
(September 2005 / März 2007)



Literatur
  • Johann Anselm Steiger: "Geh aus, mein Herz, und suche Freud". Paul Gerhardts Sommerlied und die Gelehrsamkeit der Barockzeit. Berlin, New York 2007.
  • Christian Bunners: Paul Gerhadt. Weg – Werk – Wirkung. Göttingen 2007, S. 128–134.
  • Helmut Lauterwasser: August Harders Melodie zu "Geh aus, mein Herz, und suche Freud". In: I. A. H. Bulletin. Publikation der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie. Nr. 30 (2004). Graz 2005, S. 119–122.
  • Christa Reich: "Geh aus, mein Herz, und suche Freud". In: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. Hrsg. von Hansjakob Becker u. a. München 2001, S. 262–274.
  • Werner Rehkopf: "Geh aus, mein Herz, und suche Freud". In: Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch. Bd. 3: Liederkunde. Zweiter Teil. Hrsg. von Joachim Stalmann und Johannes Heinrich. Göttingen 1990, S. 496–498.
  • Hermann Petrich. Unser geistliches Volkslied. Geschichte und Würdigung lieber alter Lieder. Gütersloh 1920, S. 39–44.

Editionen und Referenzwerke
Weiterführende Literatur
  • Robert Gernhardt: Später Spagat. Gedichte. Frankfurt 2006, S. 17ff. (Parodie des Gerhardt-Liedes).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung (nur Parodie)
  • Gedruckte Quellen: häufig in Kirchengesangbüchern, überaus häufig in allgemeinen Gebrauchsliederbüchern (v.a. 20. Jahrhundert), sehr viele sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: gelegentlich auf Liedpostkarten
  • Tondokumente: häufig auf Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Darüber hinaus wurden auch die Bestände des Gesangbucharchivs Mainz sowie (hinsichtlich der Tonträger) des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Michael Fischer: Geh aus mein Herz und suche Freud (2007). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/geh_aus_mein_herz_und_suche_freud/>.


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last modified 16.10.2012 10:02
 

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