Skip to content. Skip to navigation

Liederlexikon

Personal tools
You are here: Home Lieder Frisch auf zur Weise von Marseille
Document Actions

Frisch auf zur Weise von Marseille

(Reveille)

Das Revolutionslied "Frisch auf zur Weise von Marseille" wurde 1849 vom Schriftsteller Ferdinand Freiligrath aus Anlass des ersten Jahrestages der Märzrevolution 1848 geschrieben. Mit der direkten Bezugnahme auf die Marseillaise und den Geist der Französischen Revolution plädierte der Autor damit für eine neue, politisch radikalere Rebellion. Nach dem endgültigen Scheitern der Revolution 1849 konnte das Lied aber nur noch in Kreisen der politischen Emigration weiterverbreitet werden. Erst im 20. Jahrhundert ist Freiligraths "Reveille" wieder aufgegriffen worden: nach der Revolution 1918 hat es Hermann Scherchen als Chorsatz für die Arbeitersängerbewegung bearbeitet und nach 1945 wurde es in der DDR als Beispiel eines historischen Arbeiter-Kampfliedes tradiert.

I. Am 19. März 1849 fand in Köln ein Bankett zur Erinnerung an die Berliner Barrikadenkämpfe vom März 1848 statt. Veranstaltet vom Kölner Demokratischen und Arbeiter-Verein, nahmen über 5.000 Menschen an dieser Feier im Gürzenich teil. Bei Reden, Bier und Musik wurde dort – wie "Der Wächter am Rhein" berichtete – "das Verlangen für eine zweite Volkserhebung" zum Ausdruck gebracht. Für diese Feier hatte Ferdinand Freiligrath (1810–1876) einen neuen Text zur "Marseillaise" verfasst, der dem revolutionären Geist der Veranstaltung entsprach und von den Teilnehmern "mit donnerndem Beifall begrüßt" wurde (Neue Rheinische Zeitung). Die demonstrative Verwendung von Symbolen der Französischen Revolution ist bei diesem Festakt auch auf anderen Ebenen praktiziert worden: die Saalordner trugen beispielsweise Phrygiermützen und diese Jakobinertracht zierte neben einer großen roten Fahne auch die Bühne (Neue Kölnische Zeitung). In diesem Rahmen fand die erste Aufführung von Freiligraths Lied mit großem Publikum statt und kurz danach erschien es in Zeitschriften der oppositionellen Kreise im Rheinland (Edition A).

II. Freiligrath schrieb dem Lied seine intendierte Funktion unmittelbar ein: es solle als eine "Reveille der neuen Revolution" wirken, als Weckruf und Ermutigung zu einer neuerlichen Rebellion. Dabei knüpfte der Autor an Gedanken an, die er bereits im Sommer 1848 in seinem Gedicht "Die Todten an die Lebenden" formuliert hatte. Damals hielt es Freiligrath für eine Verpflichtung gegenüber den Opfern der Märzaufstände, dass der revolutionäre "Grimm" wieder erwache, damit "die halbe Revolution zur ganzen wird". Dieses Bild nahm er nun in der ersten Strophe und im Refrain seiner "Reveille" pointiert wieder auf: "Die neue Rebellion! Die ganze Rebellion" – im Gegensatz zu "der alten, halben". Auch die Verwendung jahreszeitlich konnotierter Metaphern als politische Symbole findet sich wieder: Wie die Saaten des Frühlings im Sommer reifen, so möge die "März"-Revolution im "Juni" neue rebellische Früchte tragen. Zugleich spiegelt dieser Liedtext den politischen Radikalisierungsprozess, den Freiligrath im Verlauf des Revolutionsjahres durchlief: Hatte er im März 1848 noch ein Loblied auf die Farben "Schwarz–Rot–Gold" angestimmt, so identifizierte er nun die "ganze Rebellion" nur noch mit der roten Fahne ("Marsch – wär's zum Tod! / Und uns're Fahne ist roth!"). Diese Positionierung ähnelt der Sichtweise von Karl Marx, nach der die "moderne" proletarische Revolution vollständiger sein werde als die von "Halbheiten" gekennzeichnete bürgerliche Revolution, wie Marx in seiner 1852 erschienenen Schrift "Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon" ausführte. Freiligraths Verbindung zu Marx wurde ab Juni 1848 in ihrer Zusammenarbeit bei der "Neuen Rheinischen Zeitung" in Köln deutlich. Vor diesem Hintergrund war schon Freiligraths erwähntes Gedicht "Die Todten an die Lebenden" entstanden, welches ihm im Herbst 1848 prompt ein Strafverfahren einbrachte. Dabei war der Dichter angeklagt, "die Bürger aufgereizt zu haben, sich gegen die landesherrliche Macht zu bewaffnen" (Hansen 1976). In diesem Kontext hatte Freiligrath auch ein sehr persönliches "Marseilleise"-Erlebnis: Denn nachdem er am 3. Oktober 1848 vom Düsseldorfer Landesgericht freigesprochen wurde, fand noch am gleichen Abend ein Fackelzug mit 12.000-15.000 Teilnehmern statt, bei dem zu seinen Ehren die französische Hymne gesungen wurde. Bereits 1846 hatte Freiligrath auf die Melodie der "Marseillaise" sein Gedicht "Vor der Fahrt" geschrieben und 1841 Alphonse de Lamartines "Friedensmarseillaise" ins Deutsche übersetzt.

III. Freiligraths "Reveille" war im Kontext der lebhaften "Marseillaise"-Rezeption in Deutschland eine markante Neuschöpfung. Seit Claude Joseph Rouget de Lisle 1792 die französische Hymne geschrieben hatte, waren etliche deutsche Fassungen dieses Liedes erschienen. In der Zeit des Vormärz, zumal beim Hambacher Fest 1832, war die "Marseillaise" eines der am meisten gesungenen Freiheitslieder. Um 1848 entstanden dazu weitere neue deutsche Texte, etwa Georg Blums "Schleswig-Holsteinische Marseillaise" (1847), Julius Schanz "Deutsche Marseillaise" (1848), Ernst Freunds "Frisch auf zum Kampfe, deutsche Brüder" (1849) oder Heinrich Bauers "Aufruf" ("Auf, Proletarier, Arbeitsleute"), die jedoch – im Unterschied zu Freiligraths Gedicht – keine größere Rezeption erfuhren. Seine "Reveille" war in Raabés Sammlung "Republikanische Lieder und Gedichte" (Kassel 1849) wie in "Die Freiheit siegt! Liederbuch der Mecklenburgischen Dorfzeitung" (Wismar 1850) enthalten und 1851 nahm Freiligrath den Text auch in den zweiten Teil seines Buchs "Neuere politische und sociale Gedichte" auf. Polizeiakten mit Noten von Arbeiterchören (wie dem Freiberger Gesangverein "Arion") zeigen, dass die "Reveille" damals auch als Chorlied gesungen wurde (Lammel 2000). Doch mit dem Scheitern der Revolution lebte "Frisch auf zur Weise von Marseille" nurmehr im Exil fort. Im "Bayerischen Volksblatt" wurde die "Reveille" 1851 nur noch nachgedruckt, um damit beispielhaft die politische Verwerflichkeit "sogenannter Freiheitslieder" als "revolutionäre und anarchische Machwerke" zu brandmarken. Spätere Veröffentlichungen in "Deutscher Liederkranz" (London 1853) und "Deutsches Balladenbuch" (Boston 1865) veranschaulichen, wie Freiligraths Lied mit den politischen Emigranten ins Ausland wanderte. In Deutschland spielte die "Reveille" bis Ende des 19. Jahrhunderts keine nennenswerte Rolle mehr.

IV. Ab den 1870er Jahren nahm die "Arbeiter-Marseillaise" von Jakob Audorf die führende Rolle unter den deutschen Marseillaise-Neudichtungen ein. Audorf hatte das Lied 1864 aus Anlass der Totenfeier für Ferdinand Lassalle geschrieben und fortan fand es in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung weite Verbreitung. Dabei entstand auch eine Mischform mit Freiligraths "Reveille", in der Audorfs Liedstrophen mit Freiligraths Refrain kombiniert wurde (Edition B). Eine weitere deutsche Marseillaise-Adaption, die sich ausdrücklich auf die "Reveille" von Freiligrath bezog, entstand Ende des 19. Jahrhunderts im Kreis des "Demokratischen Vereins" München und wurde dort 1898 als "Deutsche Freiheits-Marseillaise" veröffentlicht (Edition C).

V. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts erschien "Frisch auf zur Weise von Marseille" wieder verschiedentlich in Anthologien historischer Freiheitslyrik und fand in den 1920er Jahren als Chorlied Eingang in das Repertoire der Arbeitersängerbewegung. Der Dirigent Hermann Scherchen (1891–1966) brachte eine eigene Komposition der "Reveille" für gemischten Chor im Verlag des Deutschen Arbeiter-Sängerbundes heraus (Edition D) und der Berliner Komponist Heinz Tiessen (1887–1971) arrangierte das Lied auf der Grundlage der von Freiligrath intendierten "Marseillaise"-Melodie und passte dabei den Textanfang der ersten Strophe dem damaligen Zeitempfinden an (Edition E). Tiessen nahm das Lied mit seinem "Jungen Chor" damals auch auf Schellackplatte auf.

VI. Nach dem zweiten Weltkrieg versuchte man vor allem in der DDR "Frisch auf zur Weise von Marseille" weiterhin als Lied zu tradieren. In Chormaterialien des FDGB war es ebenso vertreten wie in Inge Lammels Sammlung "Lieder der Revolution von 1848" (Berlin 1957). Davon ausgehend war Freiligraths Lied ab Ende der 1960er Jahre auch in der Bundesrepublik in den meisten Liederbüchern zur Revolution 1848 enthalten – aber es blieb weitgehend ein Liederbuchlied. Lediglich Hein und Oss Kröher haben "Frisch auf zur Weise von Marseille" 1974 auf Schallplatte eingespielt. Mit Cembalo, Trommeln und Blasinstrumenten versuchten sie an den alten militärisch-kämpferischen Gestus der Marseillaise anzuknüpfen. Darüber hinaus gab es unter der jüngeren Sängergeneration (im Umfeld der Liedermacherszene und des deutschen Folkrevivals) jedoch kaum Interesse an diesem Lied. Eine 1977 in der DDR erschienene Einspielung mit Männerchor und Blasorchester auf der Schallplatte "100 Jahre Deutsches Arbeiterlied" konservierte lediglich den historisch-musealen Charakter von Freiligraths Revolutionslied als "sozialistisches Erbe". In einer Zeit als das mit einem Marseillaise-Zitat beginnende "All you need is love" der Beatles längst zu einer Hymne der Flower-Power-Generation geworden war, konnte Freiligraths markige Marseillaise-Version nurmehr als altbackenes Relikt erscheinen.

DAVID ROBB
ECKHARD JOHN
Quellenrecherche: Ingrid Bertleff
(Juni 2013)



Editionen und Referenzwerke
  • Ernst Fleischhack: Freiligraths Gedichte in Lied und Ton. Überblick und bibliographische Sammlung. Bielefeld 1990, S. 51.
  • Underberg 1930, S. 228f.
  • Christian Petzet: Die Blütezeit der deutschen politischen Lyrik von 1840 bis 1850. Ein Beitrag zur deutschen Literatur- und Nationalgeschichte. München 1902, S. 349f.

Weiterführende Literatur
  • James M. Brophy: Popular Culture and the Public Sphere in the Rhineland, 1800–1850. Cambridge 2007.
  • Ulrike Ruttmann: Wunschbild – Schreckbild – Trugbild. Rezeption und Instrumentalisierung Frankreichs in der deutschen Revolution von 1848/49. Stuttgart 2001 (zur Rezeption der "Marseillaise" S. 290–296).
  • Inge Lammel: Das Revolutionslied 1848. In: Demokratie und Arbeiterbewegung in der deutschen Revolution von 1848/49. Beiträge des Kolloquiums zum 150. Jahrestag der Revolution von 1848/49 am 6. und 7. Juni 1998 in Berlin. Hrsg. Helmut Bleiber etc. Berlin 2000, S. 153–166 (dort S. 163 Hinweis auf Freiberger Archivalien).
  • Jonathan Sperber: Germania mit Phrygiermütze. Zur politischen Symbolik der Revolution von 1848/49 in den Rheinlanden. In: 1848/49 und der Mythos der Französischen Revolution. Hrsg. Irmtraud Götz von Olenhausen. Göttingen 1998, S. 63–80.
  • Beatrix Bouvier: Die Marseillaise in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914. In: Internationalism in the labour movement 1830–1940. Leiden etc. 1988, Teil 1, S. 137–162.
  • Joseph Hansen (Hrsg.): Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830–1850. Bd. 2/2 (April–Dezember 1848). Köln, Bonn 1976 (Zitat S. 461).
  • Hans-Werner Engels: Gedichte und Lieder deutscher Jakobiner. Stuttgart 1971 (Kapitel VI: "Die Marseillaise in Deutschland", S. 74–83 und S. 200–205).
  • Dieter Dowe: Aktion und Organisation. Arbeiterbewegung, sozialistische und kommunistische Bewegung in der preußischen Rheinprovinz 1820–1852. Hannover 1970, S. 221 (zum Kölner Bankett 1849).
  • Die radikale Partei und das Proletariat. In: Bayerisches Volksblatt (Regensburg) 3 (1851), Nr. 141 (23. Mai); Zitat S. 1.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: keine Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: vereinzelt auf Flugschriften, gelegentlich in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: selten auf Tonträgern
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
David Robb, Eckhard John: Frisch auf zur Weise von Marseille (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/frisch_auf_zur_weise_von_marseille/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 13.02.2015 12:33
 

nach oben | Impressum