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Zur Tawrischen Festung zu Sewastopol


Das Kriegslied "Zur Tawrischen Festung zu Sewastopol" thematisiert die Belagerung der zur Festung ausgebauten Hafenstadt Sewastopol während des Krimkrieges durch türkische, englische und französische Truppen. Text und Melodie sind mit jeweils einer Aufzeichnung aus mündlicher Überlieferung erhalten. Beide wurden im Jahr 1930 von der Germanistin und Philologin Tatiana Sokolskaja in der russlanddeutschen Siedlung "Kolonie Billerfeld" (Ukraine) aufgezeichnet (Edition A).

I. Der Krimkrieg (1853–1856) gilt hinsichtlich der Kriegstaktiken und des Waffeneinsatzes wie auch bezüglich der begleitenden Kriegsberichterstattung als erster Krieg der Moderne. Auslöser war das Bestreben Zar Nikolaus I., dem russischen Zarenreich das politisch schwächer werdende Osmanische Reich einzuverleiben. Die Osmanen und ihre Verbündeten Frankreich, England und ab Januar 1855 auch Sardinien reagierten darauf mit militärischer Gegenwehr. Die Kampfhandlungen kulminierten in der elfmonatigen Belagerung und anschließenden Eroberung Sewastopols im September 1855. Dabei wurde die mächtige Festung, welche Sewastopol umgeben hatte, geschliffen und die gesamte Stadt weitgehend zerstört. Der Krimkrieg markierte eine politische Zäsur in der Geschichte des russischen Zarenreiches. Außenpolitisch hatte Russland seine Vormachtstellung verloren, innenpolitisch leitete Alexander II., der Nikolaus I. im Februar 1855 auf den Thron gefolgt war, in dem als wirtschaftlich und militärisch rückständig wahrgenommenen Land Reformen ein.

II. Entstanden ist das Lied wahrscheinlich während der Belagerung Sewastopols – denn vom negativen Ausgang der Kriegshandlung für die Stadt und das russische Zarenreich ist in dem Text nicht die Rede. Bezeichnenderweise werden im Lied die gegnerischen Parteien Russlands als Aggressoren und Auslöser des Konflikts genannt ("Die Franzen, die Türken, die englische Schar, sie brachten das russische Reich in Gefahr."). Die Strophen schüren Revanchegefühle, verströmen Siegesgewissheit und demonstrieren trotzig eine überlegene Haltung gegenüber den Kriegsgegnern. Der Text hatte wohl die klassische Funktion eines Kriegsliedes: Angst ableiten, ermutigen, die eigene Aggression rechtfertigen und den Kampfgeist schüren, indem die Impertinenz des Angreifers artikuliert, die eigene Stärke beschworen und der Gegner lächerlich gemacht wird.

III. Den Text durchzieht eine Ironie, die den Ernst der Situation in den Hintergrund treten lässt. Er hebt an mit einer Beschreibung des Angriffs auf Sewastopol. Darauf folgt die Vermutung, die Angreifer rechneten wohl mit einem leichten Sieg. Sogleich wird ihnen mit einer mächtigen Abreibung gedroht. In der vierten Strophe begibt sich der Text auf eine metaphorische Ebene und arbeitet mit dem Bild des Gastmahls. Die Kriegsgegner werden im Lied zu harmlosen "hungrigen Schluckern", denen nun eine ordentliche Mahlzeit "nach Art des Hauses" vorgesetzt wird. Mit der Ankündigung "Herbergersaken Salat" und "Gurkenschnaps" zu servieren, wird auf bestimmte Waffentypen oder auf die Kampfhandlung an sich angespielt. Unklar ist, ob die vierte Strophe fragmentarisch ist (sie hat nur drei, nicht vier Verse, wie die restlichen Strophen) oder womöglich aus einem anderen Lied übernommen wurde (abgesehen von dem Wechsel der Stilebene ändert sich auch das Versmaß).

IV. Interessant im Zusammenhang mit der Entstehung des Liedes ist eine Besonderheit im gesellschaftlichen Status der russlanddeutschen Siedler: sie waren, bis zur Aufhebung der ihnen von Katharina II. zugestandenen Privilegien im Jahr 1871, von der Pflicht zum Militärdienst befreit. Hier berichtet ein Lied in deutscher Sprache und aus der Perspektive russischer Soldaten von der Belagerung Sewastopols. Dies weist nicht nur darauf hin, dass alle Bürger Sewastopols, auch diejenigen, die nicht in die Armeen eingebunden waren, von der Belagerung betroffen waren. Es zeigt auch, dass die Freistellung vom Militärdienst die deutschsprachigen Siedler im Konfliktfall nicht von einer dezidierten politischen Meinung abhielt – in diesem Fall einer pro-russischen.

V. Auch wenn dieses Lied nur als singuläre Aufzeichnung erhalten ist, belegt diese, dass die zentrale Schlacht des Krimkrieges noch rund 70 Jahre nach dem Ereignis im kollektiven Gedächtnis der Russlanddeutschen präsent war.

INGRID BERTLEFF
(Januar 2009)



Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: Einzelbeleg aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: —
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: singuläre Feldaufnahme (Wachswalze)
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Zur Tawrischen Festung zu Sewastopol (2009). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/zur_tawrischen_festung_zu_sewastopol/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 16.09.2013 01:53
 

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