Skip to content. Skip to navigation

Liederlexikon

Personal tools
You are here: Home Lieder Zu Siebzig, da zogen die Lippischen Schützen
Document Actions

Zu Siebzig, da zogen die Lippischen Schützen


Das vermutlich im deutsch-französischen Krieg 1870/71 entstandene, aber erst im frühen 20. Jahrhundert durch Quellen belegte Lied "Die Lippischen Schützen" erfuhr – nicht zuletzt dank einiger Vortragskünstler – in den 1920er Jahren eine gewisse, auch überregionale Verbreitung. Im Lipperland selbst wird es als Ausdruck heimatlicher Identität noch heute gepflegt.

I. Nach bisherigem Kenntnisstand ist das Lied "Die Lippischen Schützen" – mit einer Eingangsstrophe, die von der später geläufigen abweicht – in der 1912 von Karl Wehrhan und Friedrich Wienke herausgegebenen Sammlung "Lippische Volkslieder" erstmals veröffentlicht worden (Edition A). Bruchstücke daraus hat Wehrhan allerdings schon 1908 im "Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung" mitgeteilt. Das aus mündlicher Überlieferung aufgezeichnete und von Wehrhan/Wienke in Mundart wiedergegebene "Humoristische Lipperlied" dürfte im deutsch-französischen Krieg 1870/71 entstanden sein (vgl. Edition B). Mit Augenzwinkern besingt es Begebenheiten beim Einsatzmarsch Lippischer Soldaten von Detmold über Orte der näheren Umgebung nach "Frankrüik henöin", wo ihr Erscheinen Schrecken verbreitet – eine ziemliche Übertreibung angesichts der tatsächlichen militärischen Stärke des kleinen Fürstentums Lippe-Detmold: Seine kaum 300 Soldaten, die ein Teilbataillon der sog "Fürstendivision" des Rheinbundes bildeten, wurden 1867 in das 6. Westfälische Infanterie-Regiment eingestellt und kamen als Teil desselben im Krieg 1870/71 zum Einsatz. Das "Spottlied auf die Lipper Heldentaten" (Edition B) ist dem im 19. Jahrhundert populären, während der Befreiungskriege entstandenen Scherzlied "Die Krähwinkler Landwehr" ("Immer langsam voran") nachgebildet, doch sind hinsichtlich der Melodie fallweise auch Abweichungen feststellbar (Edition A, entsprechend Edition C).

II. Die 1912 dokumentierte, in der Singpraxis des Lipperlandes bis dahin offenbar gebräuchliche Eingangsstrophe – ein Treueschwur an den "Fürsten von der Lippe" (vgl. Edition A und Edition B) – ist in Belegen der Folgezeit durch eine andere, möglicherweise erst nachträglich geschaffene Strophe ersetzt. Dass es hier heißt, "zu Siebzig" (1870) seien die Lippischen Schützen nach Frankreich gezogen, um "das Vaterland" zu schützen, erscheint wie eine ex post hinzugefügte Liedeinleitung. Der bislang früheste entsprechende Beleg findet sich im 1914 erschienenen 10. Heft der "Lieder zur Laute" von Robert Kothe (Edition C).

III. Kothe und andere nach ihm brachten das zuvor allenfalls regional bekannte Lied "Die Lippischen Schützen" einem größeren Publikum nicht nur auf publizistischem Weg näher. Als "Sänger zur Laute" präsentierte Robert Kothe (1869–1944) im Anschluss an seine Zeit im Münchner Kabaret "Elf Scharfrichter" (1901–1903) auf zahlreichen Konzertreisen deutsche Volkslieder und eigene Lieder im Volkston. Ihm gleich machte es ab den frühen 1920er Jahren Karl Blume (1883–1947), der das Lied "Die Lipper Schützen" nicht nur in einer Einzelausgabe mit Lauten- bzw. Klavierbegleitung (Edition D) und schön illustriertem Titelblatt herausgab (Abb. 1), sondern mehrfach auch für Schallplatte einsang. Durch Bühnenauftritte und Schallplatte machte vor allem der in Detmold gebürtige Sänger und Humorist Joseph Plaut (1879–1966) das Lied breiter bekannt. Daneben hat es bis in die frühen 1930er Jahre verschiedentlich in Liederbüchern der Jugendbewegung Aufnahme gefunden, etwa in Johannes Hatzfelds "Tandaradei" (1920) oder Fritz Sotkes "Wir zogen in das Feld" (1923).

IV. Die "Lippischen Schützen" des Liedes sind wahrlich keine Musterexemplare soldatischer Pflichterfüllung: Sie verlieren, kaum in Marsch gesetzt, ihre Fahne, die Themen Frauen und Essen sind ihnen primär wichtig: "Die Hornschen Mädchens waren allerliebste Engels, / sie brachten uns Käse und ok grote Waterkrengels", heißt es in einer Version des Liedes, die 1929 im "Lippischen Kalender" erschien (Edition E). Bemerkenswert ist hier auch eine Abwandlung der Schlussstrophe: "Und als wir nun kamen nach das Frankreich herein, / da tät der Krieg schon längst to Ende sein". Diese Tendenz des Liedes dürfte Ursache dafür sein, dass seine Tradierung mit Beginn des Dritten Reiches abbricht. Soweit feststellbar, wurde es zwischen 1933 und 1945 nur in einem Liederbuch veröffentlicht (Morgen marschieren wir. Liederbuch der deutschen Soldaten, hrsg. von Hans Baumann. Potsdam 1939).

V. Im Lipperland wurde das Lied "Die Lippischen Schützen" als Ausdruck regionaler Identität nach dem Zweiten Weltkrieg weiter gepflegt, wie der Vertrieb einschlägiger Liedpostkarten (Abb. 2) oder ein 1998 vom Landesverband Lippe herausgegebenes "Lippisches Liederbuch" zeigen. Dagegen sind Rezeptionsbelege aus anderen Zusammenhängen selten. So findet sich "Die Lippischen Schützen" auf der ersten Platte der Folkband "Liederjan" ("Live aus der Fabrik", 1976), wobei hier mehrere Strophen aus "Immer langsam voran" in das Lied integriert wurden (Edition F).

TOBIAS WIDMAIER
(November 2009)



Weiterführende Literatur
  • Eugen Heinen: Chottechott, was isser damit? Zum Leben und Wirken des jüdischen Vortragskünstlers Joseph Plaut aus Lippe-Detmold (1879–1966). Detmold 2004 (S. 87–91 zu einem von Nationalsozialisten gegen Plaut in Detmold am 11. April 1932 angezettelten Theaterskandal; Thema in den anschließenden Pressedebatten war auch seine Repertoirenummer "Die Lippischen Schützen").


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: gelegentlich in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: selten auf Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Tobias Widmaier: Zu Siebzig, da zogen die Lippischen Schützen (2009). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/zu_siebzig_da_zogen_die_lippischen_schuetzen/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 12.09.2012 01:34
 

nach oben | Impressum