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Zu Frankfurt an dem Main

(Das Reden nimmt kein End')

Das satirische Gedicht "Zu Frankfurt an dem Main" wurde 1848 von dem revolutionären Dichter Georg Herwegh verfasst. Es beleuchtet kritisch die Zustände im ersten frei gewählten deutschen Parlament, das seit Mai 1848 in der Paulskirche in Frankfurt am Main tagte. Über die Rezeption des Textes im 19. Jahrhundert ist wenig bekannt. Im 20. Jahrhundert findet sich das Gedicht vornehmlich in Anthologien politischer Lyrik. Seit den 1970er Jahren wurde es verschiedentlich vertont und in der Liedermacher- und Folkszene als gesungenes Lied verbreitet.

I. "Zu Frankfurt an dem Main" schrieb Georg Herwegh (1817–1875) im Frühsommer 1848 im Pariser Exil. Der Erstdruck erfolgte am 7. Juli 1848 in der "Deutschen Londoner Zeitung" (Edition A). In den Monaten zuvor war Herwegh an den revolutionären Ereignissen unmittelbar beteiligt: Im Gefolge der französischen Februar-Revolution (1848) hatte er in Paris die Deutsche Demokratische Legion gegründet und mit dieser erfolglos versucht, den badischen Aufstand mit Friedrich Hecker zu unterstützen. Am 27. April 1848, eine Woche nach der Niederlage von Heckers Freischaren, wurde auch Herweghs Truppe von württembergischen Soldaten besiegt und verjagt. Georg Herwegh floh mit seiner Frau Emma zunächst in die Schweiz und von dort zurück nach Paris. Ab dem 18. Mai 1848 tagte in der Frankfurter Paulskirche die Nationalversammlung, der Herwegh – wie sein Gedicht zeigt – äußerst skeptisch gegenüber stand. Mit seiner Distanz zum neuen Parlament war der exilierte Schriftsteller damals nicht alleine. Ähnlicher Unmut äußerte sich auch in einem Gedicht von Max Berner, das in dessen Gedichtsammlung "Michel-Lieder" (Berlin 1848 oder 1849) erschien: Der dreistrophige Text hat die Anfangsworte, das Thema und einige prägnante Zeilen mit dem Herwegh-Gedicht gemeinsam (Edition B). Ob Berner von Herweghs Versen wusste und ob er seine Version in bewusster Anlehnung an ihn oder völlig unabhängig davon verfasste, ist nicht bekannt.

II. Herweghs Gedicht kommentiert die Anfangsphase der neu konstituierten Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche, als sich rasch zeigte, dass bereits die Forderung nach Schaffung einer provisorischen Exekutive des Parlaments zu lang anhaltenden Debatten führte. Sie endeten in Heinrich von Gagerns Aufruf einen "kühnen Griff" zu tun und aus eigener Machtvollkommenheit eine "provisorische Zentralgewalt" für Deutschland zu wählen. Das entsprechende Gesetz wurde am 28. Juni 1848 von der Nationalversammlung verabschiedet und am folgenden Tag Erzherzog Johann von Österreich zum "Reichsverweser" gewählt. Kurz darauf, am 7. Juli 1848, veröffentlichte Herwegh sein Gedicht – offenkundig als direkte Reaktion auf diese Ereignisse: "Zu Frankfurt an dem Main / Bald zieht der Kaiser ein" (Str. 3) spielt unmittelbar auf die Wahl des "Reichsverwesers" an: Erzherzog Johann war ein Onkel des österreichischen Kaisers und fungierte damals in Wien als dessen Stellvertreter, nachdem Ferdinand I. nach Innsbruck geflohen war. Zugleich verweist der Refrain "Das Reden nimmt kein End'" auf die vorangegangen Kontroversen, bei denen sich auch zeigte, dass die Vertreter der demokratischen Linken mit ihrem Bestreben, eine republikanische Staatsform zu schaffen, deutlich in der Minderheit waren gegenüber den Liberalen und Konservativen, die verschiedene Formen einer parlamentarischen bzw. konstitutionellen Monarchie befürworteten. Diese Frontstellung war Herweghs Ausgangspunkt: "Man wird die Republiken / Im Mutterleib ersticken" (Str. 2); abgeleitet davon seine sarkastische Erwähnung der Abgeordneten Bassermann, Welcker und Matthy. Dass Herwegh ausschließlich badische Paulskirchen-Vertreter namentlich angreift, dürfte aus den Nachwirkungen seiner eigenen Beteiligung am Revolutionsversuch in Baden resultieren. Auch sein pathetischer Schlussseufzer "O Volk, mach' ihm ein End'" atmet noch diesen revolutionären Aktivismus, wobei nicht eindeutig ist, worauf sich Herweghs Aufforderung eigentlich bezieht: auf das endlose Gerede ("Parla-, Parla-") oder auf das Parlament an sich. Somit bleibt auch die letztliche Stoßrichtung des Gedichtes unklar: ist es ein antiparlamentarisches Statement oder zielt es auf mehr außerparlamentarischen Druck auf die Abgeordneten?

III. Über die frühe Rezeption des Gedichts ist nichts Gesichertes bekannt. 1877 wurde der Text in einer veränderten Fassung im Herwegh-Band "Neue Gedichte. Herausgegeben nach seinem Tod" in Zürich wieder veröffentlicht (Edition C). Diese überarbeitete Version erschien mit einer zusätzlichen Strophe. Darin wird zum einen die anhaltende Zersplitterung Deutschlands bemängelt, zum anderen der Präsident der Nationalversammlung, Heinrich von Gagern, aufs Korn genommen. Unter Anspielung aufs alte Rom und die Sage, dass die Römer seinerzeit vor den heranrückenden Galliern erst durch das Schnattern von Gänsen gewarnt worden seien, formulierte Herwegh: "Das Kapitol erzittert, / Umringt von Feindeslagern, / Die Gänse giga –gagern" – ein sarkastisches Wortspiel, das seine Meinung über den damals führenden Politiker des Paulskirchen-Parlaments unverhohlen zum Ausdruck bringt. Möglicherweise hatte Herwegh sein Gedicht als Reaktion auf die Frankfurter Septemberunruhen 1848 sowie den Aufstandsversuch von Gustav Struve überarbeitet, aber Genaues über den Zeitpunkt der Neufassung ist nicht bekannt. Die erweiterte Version des Gedichtes wurde nach 1877 rezeptionsleitend, erschien zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Anthologien politischer Lyrik und ist noch 1926 von Kurt Tucholsky aufgegriffen worden: Er zitierte den Refrain "Im Parla- Parla- Parlament / Das Reden nimmt kein End'" am Anfang eines Essays über die Gefahr des Faschismus in Frankreich. Der Unmut gegenüber dem Gerede der Parlamentarier angesichts politischen Handlungsbedarfs hatte in der Zeit nach der Revolution 1918 wieder neue Aktualität erhalten. Als identitätsstiftendes Element des "revolutionären Erbes" erschien das Gedicht schließlich auch in Lyrikanthologien der frühen DDR.

IV. Zu einem Lied wurde Herweghs Gedicht erst im Kontext der westdeutschen Liedermacher- und Folkszene, als es in den 1970er Jahren in verschiedenen Vertonungen aufgenommen wurde. Den Anfang machten 1974 Hein und Oss Kröher mit ihrer LP "Deutsche Lieder 1848/49", auf der sie "Zu Frankfurt an dem Main" in einem Dixieland-Arrangement vortragen – was völlig untypisch für diese beiden Gitarrenbarden war und schon über die musikalische Ebene das Spöttisch-Ironische des historischen Gedichtes ins Ambiente des 20. Jahrhunderts transportieren sollte. In jenen von APO und Studentenbewegung geprägten Jahren nach 1968 gewann Herweghs Text neue Aktualität. Als sich aus der außerparlamentarischen Opposition die neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre entwickelten, fand auch Herweghs Satire aufs 1848er-Parlament neue Vertonungen: vom bluesinspirierten Arrangement der Folkrockgruppe "Ougenweide" (1978) über eine shantyartige Version des Folkduos Mani Goetz und Rainer Guinn Ketz (1978) bis hin zum einstimmigen Chorgesang der Freiburger Gruppe "Ohrenschmalz" (1978). Besondere Verbreitung fand damals über Tonträger die Aufnahme von "Ougenweide" – während die von Hein und Oss Kröher verwendete Melodie ("Was kommt dort von der Höh") die Rezeption des Textes als gesungenes Lied dominierte: Sie wurde in verschiedenen Liederbüchern abgedruckt (Edition D) und von Laiensängern ebenso übernommen wie von den Gruppen "Fortschrott" (1980), "Deutsche Gildenschaft" (1997) und "Passepartout" (2010). Bemerkenswert ist zugleich, dass Herweghs Gedicht in der DDR (zumal in der latent oppositionell eingestellten Folkszene) keine erkennbare Rolle als Lied gespielt hat. Im Umfeld des 150. Jubiläums der 1848er-Revolution gab es weitere Neuvertonungen: durch Thomas Friz (1996), Roland Kroell (1998) und die Gruppe "Siebenpfeiffer" (1998). Mit dem neuen Interesse an Herweghs Text seit den 1970er Jahren artikulierten sich zeitgenössische Ressentiments gegenüber dem Parlament als reaktionärer "Schwatzbude", wie sie auch in einer anderen Liedadaption jener Jahre – der Vertonung von Joachim Ringelnatz' Gedicht "Das Parlament" durch die Regensburger Gruppe "Anonym" (1985) – zum Ausdruck kommen. Zugleich flossen Vertonungen des Herwegh-Gedichtes "Zu Frankfurt an dem Main" in pädagogische Arbeitsmaterialien ein. In der schulischen und politischen Bildung der Bundesrepublik spielt die Geschichte des ersten demokratischen Parlamentes in Deutschland und seines Scheiterns mittlerweile eine wichtige Rolle. Lieder bilden dabei attraktives Anschauungsmaterial, vermitteln in diesem Fall freilich ein falsches Bild vom historischen Stellenwert des Herwegh-Textes: Denn dieser kursierte in den Jahren ab 1848 nicht als Lied, sondern allenfalls als Gedicht.

DAVID ROBB
ECKHARD JOHN
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(Mai 2010)



Literatur
  • Michael Sauer: Das Reden nimmt kein End'. In: Ders., Historische Lieder. Begleitbuch zur CD. Stuttgart: Ernst Klett 1997, S. 51–59. 

Editionen und Referenzwerke
  • Georg Herwegh. Gedichte 1835–1848. Bearbeitet von Volker Giel (= Georg Herwegh: Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Hrsg. von Ingrid Pepperle. Band 1). Bielefeld: Aisthesis Verlag 2006, S. 260–261 und S. 827–830.

Weiterführende Literatur
  • Ulrich Enzensberger: Herwegh. Ein Heldenleben. Frankfurt am Main 1999 (S. 191–222: zur Deutschen Legion).
  • Ludwig Vögeky: Georg Herwegh, die Pariser deutsch-demokratische Legion und ihr Zug im badischen Oberland im April 1848. In: Badische Heimat 77 (1997), S. 517–537.
  • Ignaz Wrobel [d.i. Kurt Tucholsky]: Fascismus in Frankreich?. In: Die Weltbühne 5. Januar 1926. In: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Band 8: Texte 1926. Hrsg. von Gisela Enzmann-Kraiker, Christa Wetzel. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 16–23 und S. 576–583.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: —
  • Gedruckte Quellen: sehr selten in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: gelegentlich auf Tonträgern (s. Diskographie)
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
David Robb, Eckhard John: Zu Frankfurt an dem Main (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/zu_frankfurt_an_dem_main/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 12.09.2012 12:11
 

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