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Wo des Haffes Wellen trecken an den Strand


Das Heimatlied "Wo des Haffes Wellen trecken an den Strand" ist eine ostpreußische Umdichtung des überregional bekannten Liedes "Wo die Ostseewellen trecken an den Strand". Die Autorschaft ist bislang ungeklärt, der Text wird dem Lehrer Franz Leiber zugeschrieben. Auch der genaue Zeitpunkt der Entstehung liegt im Dunkeln. Seine größte Verbreitung erfuhr das Lied in den 1920er und 1930er Jahren in Ostpreußen. Eine politische Umdichtung entstand direkt nach dem Zweiten Weltkrieg in einem ostpreußischen Gefangenenlager und führte zu zahlreichen Verhaftungen durch die sowjetischen Besatzungsbehörden. Nach dem Krieg spielte das Hafflied im Kreise der Flüchtlinge aus Ostpreußen eine – stetig abnehmende – Rolle als Erinnerungsträger an die alte Heimat.

I. Die Vorlage für das Haff-Lied war das 1907 von Martha Müller-Grählert verfasste Gedicht "Wo die Ostseewellen trecken an den Strand", das in der Vertonung von Simon Krannig populär geworden war. Die Herkunft der ostpreußischen Umdichtung ist bislang nicht eindeutig belegt. Eine ostpreußische Überlieferung besagt, dass der Lehrer Franz Leiber aus Inse das Lied um 1910 verfasst haben soll. Dieser habe es zunächst seinen Schülern beigebracht und später auch dem Inser Männerchor. Konkret greifbar wird das Lied jedoch erst Jahre später in einem Notendruck aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, wo es im Verlag von F. W. Sieberts Memeler Dampfboot A. G. erschien (Edition A). In Hinblick auf den publizistischen Stellenwert des Verlages, der in Memel eine gleichnamige Tageszeitung herausbrachte, kann man wohl von einem guten Verbreitungsfaktor des Notendrucks ausgehen. Ein Autor wird in dieser ersten Veröffentlichung nicht erwähnt, lediglich der Bearbeiter Willy Ludewigs.

II. Die starke regionale Färbung des Liedes artikuliert sich in der ostpreußischen Mundart ebenso wie im Liedinhalt: "Wo des Haffes Wellen" bringt zunächst die heimatliche Natur mit Elch und Kranich ("Kranke"), Möwen und "Sturmgebraus" ins Bild. Durch die Akzentuierung des "Haffs" gleich zu Beginn des Textes wird hier nicht nur eine allgemeine Verortung in Küstennähe, sondern ein ganz konkreter regionaler Bezug hergestellt. Gemeint ist das Kurische Haff der Ostsee vor Ostpreußen. Der Heimatbezug wird primär von den landschaftlichen Gegebenheiten abgeleitet, wobei etwa "Wellen und Wogen" als "Wiegenlied" fungieren. Von solchen Erinnerungen an die "Kinnertid" leitet sich eine starke "Sehnsucht" nach der Heimat, nach dem "klenen, kolen Fescherland", ab.

III. Die erste greifbare Veröffentlichung des Liedes "Wo des Haffes Wellen" in den 1920er Jahren als vermeintlich anonymes "Volkslied" legt nahe, dass die Entstehung des Liedes bereits einige Zeit zurückliegt und dass über seine frühe Geschichte bislang wenig Verlässliches bekannt ist. Auch zeitgenössische "Volkslied"-Sammler haben "Wo des Haffes Wellen" um 1930 als anonymes Lied aus mündlicher Überlieferung aufgezeichnet (s. Edition A). Franz Leiber wird erstmals bei einer Schallplattenproduktion der 1930er Jahre als Autor genannt. Ebenfalls ab den 1930er Jahren findet sich das Lied als "Fliegerlied von der Nehrung" in Flieger-Liederbüchern, jeweils mit Bezug auf die "Fliegerschule Rositten" in Ostpreußen. Dort ist damals auch eine neue fünfte Strophe hinzugedichtet worden (Edition B). Die regionale Identifikation spiegelt sich zudem in der Verwendung der Anfangstakte als Pausenzeichen beim Reichssender Königsberg wieder. Dies trug ebenso zur weiteren Popularisierung des Liedes bei wie verschiedene Schallplattenaufnahmen vor dem Zweiten Weltkrieg. Als "Nehrungslied" wurde "Wo des Haffes Wellen trecken an den Strand" in jenen Jahren in ganz Ostpreußen bekannt.

IV. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte das Haff-Lied eine neue, politische Brisanz. Im nun sowjetisch besetzten Ostpreußen wurde in einem Gefangenenlager auf die Melodie des vertrauten Heimatliedes ein neuer Text verfasst, der mit den Zeilen "Dort im Lande wo die blaue Ostsee liegt, wo es keine Sonn- und Feiertage gibt" anhebt. Dort – so heißt es weiter – "steh'n die Preußen sorgenschwer und bleich" in ihrer nunmehr durch Hunger, Krankheit, Plünderungen und Besatzung gezeichneten Heimat. Diese Stimmungslage artikulierte sich in dem – politisch fatalen – Wunsch, wieder "heim ins Reich" zu wollen (Edition C). Dies hatte verheerende Auswirkungen. Allein die Kenntnis dieses Liedes konnte für die Menschen in Ostpreußen schon existentielle Folgen haben: Etliche wurden deswegen von den sowjetischen Behörden verhaftet und zu langjährigen Strafen (Arbeitslager) verurteilt (John 2012). Diese Umdichtung ist ausschließlich im Gedächtnis der ostpreußischen Erinnerungsgeneration tradiert worden.

V. Mit den Flüchtlingen aus Ostpreußen kam auch das Lied "Wo des Haffes Wellen" nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik. Hiervon zeugen vor allem Publikationen aus dem landsmannschaftlichen Milieu, in welchen das Lied ab 1949 nun auch als Chorlied veröffentlicht wurde (Edition D). Ab den 1950er Jahren sank das Interesse am "Hafflied" jedoch kontinuierlich. In vielen späteren ostpreußischen Liederbüchern ist es nicht mehr enthalten. In den 1980er Jahren taucht es nur noch sehr vereinzelt in Liederbüchern und auf Tonträgern auf.

LISA BIETENBECK
ECKHARD JOHN
(März 2012)



Literatur
  • Eckhard John: Vom Haff ins Lager. Erinnerungen an ein Nachkriegs-Lied aus Ostpreussen. In: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 20 (2012); erscheint im Herbst 2012.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: selten in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: vereinzelt auf Liedpostkarten
  • Tondokumente: selten auf Tonträgern
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Lisa Bietenbeck: Wo des Haffes Wellen trecken an den Strand (2012). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/wo_des_haffes_wellen_trecken_an_den_strand/>.


© Deutsches Volksliedarchiv

last modified 10.10.2012 01:31
 

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