Skip to content. Skip to navigation

Liederlexikon

Personal tools
You are here: Home Lieder War wohl je ein Mensch so frech
Document Actions

War wohl je ein Mensch so frech

(Lied vom Bürgermeister Tschech)

Das politische Ereignislied "War wohl je ein Mensch so frech" bezieht sich auf den Attentatsversuch von Ludwig Tschech auf König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen im Juli 1844. Der Autor des zunächst von Bänkelsängern verbreiteten Liedes ist nicht bekannt. In den Jahren vor der Revolution 1848 galt das Lied vom Bürgermeister Tschech als ein subversives Lied, dessen Verbreitung im Kontext des Berliner "Kommunisten-Prozesses" 1847 als Anklagepunkt geltend gemacht wurde. In der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ist das Lied nach 1880 als Spottlied auf die Monarchie wieder aufgegriffen und bis in die 1920er Jahre tradiert worden. Erneutes Interesse fand "War denn wohl ein Mensch so frech" unter Liedermachern und Folkmusikern in den 1970er Jahren, wo es als "demokratisches Volkslied" einer Geschichtssicht "von unten" eine prominente Rolle spielte.

I. Wie einer Tagebucheintragung von Karl August Varnhagen von Ense zu entnehmen ist, entstand "War wohl je ein Mensch so frech, als der Bürgermeister Tschech" kurze Zeit nach dem gescheiterten Attentat vom 26. Juli 1844 auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. und seine Gemahlin im Bänkelsängermilieu (Edition A). Das Lied galt damals in den Augen der Zensur als politisch nicht opportun, was sich auch daran zeigt, dass bislang keine zeitgenössischen Druckerzeugnisse (zumal Flugschriften) aus Deutschland bekannt geworden sind, die das Tschech-Lied enthalten. Vielmehr erschien der erste erhaltene Druck in der Schweiz: innerhalb eines 1845 publizierten satirischen Dramolets des Stuttgarter Schriftstellers Johannes Scherr (1817–1886), der eine führende Figur der württembergischen Demokraten war (Edition B).

II. Der Attentäter Ludwig Tschech (1789–1844) war zehn Jahre Bürgermeister der kleinen Stadt Storkow in der Nähe von Berlin, bis er 1842 nach jahrelangen Querelen von seinem Posten zurücktrat. Tschech bat bei den preußischen Behörden vergeblich um eine andere geeignete Stellung im Staatsdienst, auch ein entsprechendes Gesuch beim König wurde abgelehnt. 1844 entschloss sich Tschech, den König zu töten, um auf diese Weise ein öffentliches Zeichen zu setzen. Am 26. Juli 1844 gab er vor dem Tor des Berliner Schlosses zwei Schüsse auf das Königspaar ab, das jedoch unverletzt blieb. Tschech wurde zum Tode verurteilt und am 14. Dezember hingerichtet. Während die Behörden versuchten, die Details über die Tathintergründe von Ludwig Tschech möglichst geheimzuhalten, avancierte Tschech gleichwohl rasch zu einer Figur in aller Munde, deren Aktion ambivalent diskutiert wurde, was auch im Lied zum Ausdruck kommt: Einerseits wird seine Widerspenstigkeit in den Vordergrund gestellt ("War wohl je ein Mensch so frech, als der Bürgermeister Tschech"), anderseits sein Scheitern ironisch kommentiert, da er "diesen dicken Mann auf zwei Schritt' nicht treffen kann". Auf bänkelsängerische Art – mit sensationsheischendem Ton, Komik und bildhafter Beschreibung – werden die unmittelbaren Vorgänge um das Attentat auf das Königspaar erzählt. Manche Versionen lassen den König sogar in Berliner Dialekt sprechen: "Auf dem Schloßplatz halt man still / Weil det Volk mir sehen will" (siehe Edition F). Wie Lukas Richter anmerkte, ist es ein Lied, das "unter dem Deckmantel moralisierenden Bänkelsängertones unverhohlenen Spott über den Landesfürsten ausschüttet" (Richter 1969) – und dies in einer Zeit als die politische Autorität des Königs aufgrund des nur wenige Wochen zuvor blutig niedergeschlagenen Weberaufstandes in Schlesien nicht unangefochten war. Über den Attentatsversuch von Ludwig Tschech sind damals verschiedene Lieder entstanden. Bei deren Tradierung haben sich einzelne Textpassagen untereinander vermischt (oder sind gezielt übernommen worden), insbesondere zwischen "War wohl je ein Mensch so frech" und dem inhaltlich nicht ganz so bissigen Tschech-Lied "Leute tretet rings heran".

III. Die überraschende Hinrichtung von Tschech im Dezember 1844 löste ein negatives Echo in der Bevölkerung aus, wie die Tagebucheintragungen von Varnhagen von Ense zeitnah dokumentieren. Auf diesem Hintergrund blieb auch das Tschech-Lied politisch brisant. Daher ist es nicht erstaunlich, dass der Text vor der 1848er Revolution nur im Ausland gedruckt wurde: zuerst 1845 in dem erwähnten Dramolet von Johannes Scherr (Edition B). Scherr, der nach der gescheiterten Revolution 1848/49 in die Schweiz flüchten musste, hatte sein leicht überarbeitetes Stück 1846 erneut in Winterthur veröffentlicht – diesmal jedoch schon unter Pseudonym. Die für deutsche Emigranten gegründete "Deutsche Brüsseler Zeitung", zu deren Beiträgern auch Friedrich Engels und Karl Marx zählten, druckte daraus das – nun durch einen neuen Schluss inhaltlich zugespitzte – Tschech-Lied im April 1847 nach. Einen Monat später erschien eine ganz ähnliche Version auch in der satirischen Schweizer Zeitschrift "Der Gukkasten" (Edition E). In Deutschland selbst kursierte das Lied dagegen offenbar nur in mündlicher Überlieferung (Edition C). Eine zeitgenössische Fassung aus Berlin hat der Liedforscher Franz Wilhelm von Ditfurth veröffentlicht. Hier ist erstmals auch eine Melodie dokumentiert, zu der das Lied seinerzeit verbreitet war. Dabei werden die Textzeilen "Ihm ging's durch den Mantel, / Ihr ging's durch 'n Hut" als Refrain benutzt, was sonst in keiner anderen bekannten Version auftaucht, aber bestens zur musikalischen Vorlage des Liedes passt: zur Popularisierung des Tschech-Textes fand nämlich der damals beliebte Marsch "Kriegers Lust” von Joseph Gungl (op. 26) aus dem Jahr 1841 Verwendung (Edition D).

IV. Die Brisanz und den politischen Stellenwert des Tschech-Liedes in der Vormärz-Zeit macht zudem der Umstand deutlich, dass das Singen dieses Liedes im Berliner Kommunistenprozeß (1847) als Anklagepunkt verhandelt wurde. Auch nach der Revolution 1848/49 ist das Lied über Jahrzehnte öffentlich kaum mehr sichtbar. Allerdings werden nun drei prägnante Strophen daraus für ein anderes bekanntes Tschech-Lied adaptiert, welches in dieser Form nach 1849 im Liederbuch "Musenklänge aus Deutschlands Leierkasten" bis in die späten 1870er Jahre erschien (siehe "Leute tretet rings heran", Edition C).

V. Erst ab 1881 findet sich "War wohl je ein Mensch so frech" in Liederbüchern der Arbeiterbewegung. Dieser Rückgriff auf vorrevolutionäre Traditionen ging einher mit einer neuen Liedform: Jedem Vers wurde eine "schrum schrum schrum"- oder "dil-li-ti-ti"-Zeile angehängt (Edition F), was dem Lied einen fast klamaukhaften Zuschnitt verlieh und zugleich vermuten lässt, dass nunmehr auf eine andere als die bislang tradierte Melodie zurückgegriffen wurde. Ein Brief Friedrich Engels an August Bebel (vom 12. April 1886) macht deutlich, dass bürgerliche Kreise mit solchen Liedern in jener Zeit längst nichts mehr zu tun haben wollten, und eine Passage im dritten Kapitel von Theodor Fontanes "Frau Jenny Treibel" (1893), in der rückblickend die subversive Bedeutung und seinerzeitige Popularität des Tschech-Liedes abschätzig diskutiert wird, beschreibt diese Haltung beispielhaft. Dagegen sah ein sozialistischer Vordenker wie Friedrich Engels in "War wohl je ein Mensch so frech" eines der beiden "besten politischen Volkslieder seit dem sechzehnten Jahrhundert" – neben dem Lied von der "Freifrau von Droste-Vischering". Die neuere Fassung des Tschech-Liedes ist bis in die Zeit der Weimarer Republik tradiert worden, wobei die "schrum schrum schrum"-Zusätze durch "sim-se-rim-sim-sim-sim", "täterätätätä" u. ä. ersetzt werden konnten. Hinsichtlich der Melodie wurde nun auf das bekannte Studentenlied "Als die Römer frech geworden" verwiesen (Edition G).

VI. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Tschech-Lied von Wolfgang Steinitz als Paradebeispiel eines "Deutschen Volksliedes demokratischen Charakters" (1962) präsentiert. Daran anknüpfend haben in der Zeit des deutschen Folkrevivals bekannte Interpreten wie Dieter Süverkrüp oder Gruppen wie "Fortschrott" und "Folkländer" (Leipziger Folksessions) das Lied auf Tonträger eingespielt. Die neue Attraktivität des Liedes beruhte auf dessen höhnischem Witz gegenüber der Obrigkeit; damit entsprach es dem kritischen Zeitgeist der neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik ebenso wie es bei den politisch Andersdenkenden in der DDR der 1980er Jahre auf Zuspruch stieß. Die einzelnen Liedinterpretationen sind jedoch äußerst unterschiedlich: Süverkrüp singt zu eigener Melodie leicht variiert die TextVariante 1845 (Edition B), Uli Klans "Fortschrott" orientiert sich in Text und Melodie an der frühesten Aufzeichnung aus mündlicher Überlieferung (Edition D), während die Leipziger "Folkländer" wiederum der vierteiligen Struktur der historischen Gungl-Melodie folgen und dazu eine Montage von Strophen aus verschiedenen Quellen benutzen.

DAVID ROBB
ECKHARD JOHN
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(September 2009)



Literatur
  • Eckhard John: Das Lied vom Bürgermeister Tschech. Ausführlicher Kommentar. In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <www.liederlexikon.de/lieder/war_wohl_je_ein_mensch_so_frech/liedkommentar.pdf> (erscheint in Kürze)

Editionen und Referenzwerke
Weiterführende Literatur
  • Lukas Richter: "Kriegers Lust" für Königsmörder. Vormärz und Revolution von 1848/49 im Spiegel des Berliner Großstadtliedes. In: Musik und Gesellschaft 37 (1987), Nr. 1 (Januar), S. 14–17.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: gelegentlich in Gebrauchsliederbüchern; diverse sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: etliche Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
David Robb, Eckhard John: War wohl je ein Mensch so frech (2009). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/war_wohl_je_ein_mensch_so_frech/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 05.12.2013 12:07
 

nach oben | Impressum