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Von Anno '34 an


Das historische Ereignislied "Von Anno vierunddreissig an" wurde Ende der 1920er Jahre in der russlanddeutschen Kolonie Friedenfeld in der Ukraine aufgezeichnet. Es handelt von der ersten Bekehrung eines Grönländers zum Christentum durch Missionare der Herrnhuter Brüdergemeine. Einerseits ist es ein historiographisches Lied über die Anfänge der Missionsgeschichte der Herrnhuter Brüdergemeine, andererseits ein erbauliches Lied, das zum Durchhalten langer Durststrecken ermutigen soll. Der Text wurde im Jahr 1927 von dem Germanisten Alfred Ström während einer Feldforschungsreise schriftlich festgehalten. Es ist zwar der einzige Beleg dieses Liedtyps, die Begebenheit an sich wurde aber in verschiedener Form aufgegriffen und tradiert. Die Überschrift der vorliegenden Aufzeichnung, "Bruchstück", deutet darauf hin, dass es sich um ein Textfragment handelt.

I. Im Liedtext wird in verdichteter Form von der Anfangsphase der Grönlandmission der Herrnhuter Brüdergemeine erzählt (Edition A): die Gründung Neuherrnhuts, der Missionsstation der Herrnhuter in Grönland, die vergeblichen Missionsversuche in den Jahren 1734-38 und schließlich die erfolgreiche Missionierung des ersten Grönländers, Kajarnak, der fortan den christlichen Vornamen Samuel trug (sein grönländischer Vorname ist nicht überliefert). Der Liedinhalt orientiert sich bezüglich der erwähnten Personen wie auch der Daten eng am historischen Kontext. 1733 reisten die Herrnhuter Missionare Matthäus Stach, Christian Stach und Christian David nach Grönland, um dort die Missionsstation Neuherrnhut (heute Teil der Stadt Nuuk) aufzubauen. 1734 folgten zu ihrer Unterstützung Friedrich Böhnisch und Johann Beck. David und Christian Stach kehrten kurz darauf wieder nach Deutschland zurück. Die drei verbliebenen Herrnhuter Brüder Friedrich Böhnisch, Matthäus Stach und Johann Beck tauften im März 1739 Samuel Kajarnak, den "Erstling" des Herrnhuter Missionsprojektes in Grönland. Der vorliegende Liedtext ist aus der Perspektive Johann Becks geschrieben, dem hier das Verdienst zugeschrieben wird, die Predigt gehalten zu haben, während der Kajarnak sich zum Beitritt zu den Herrnhutern entschieden hat.

II. Grönland war einer der ersten Orte der Missionstätigkeit der noch jungen Herrnhuter Brüdergemeine (sie wurde 1722 begründet). Entsprechend wichtig war diese Episode für die Gemeinde, welche die Geschichte tradierte und im kollektiven Gedächtnis bewahrte. Die Erzählung von der Anfangsphase der Grönlandmission und der Bekehrung Kajarnaks fand Eingang in verschiedene Lieddichtungen der Herrnhuter. Die wichtigste Quelle für die Rezeption dieser Begebenheit ist jedoch David Cranz' "Historie von Grönland" (1765). Cranz wurde 1761/62 als Historiograph der Brüdergemeine nach Grönland gesandt und publizierte im Anschluss an seinen Aufenthalt sein umfangreiches Geschichtswerk. Cranz' kultur- und naturkundliche Darstellung Grönlands wurde damals in mehrere europäische Sprachen übersetzt und von vielen seiner Zeitgenossen gelesen. Die Rezeption der Kajarnakepisode unterstützt hat Theodor Fontanes Verarbeitung des Stoffes in seinem 1878 erschienenen Roman "Vor dem Sturm" (im 16. Kapitel des 2. Bandes, "Von Kajarnak dem Grönländer"). Der Text des vorliegenden Liedes basiert vermutlich sowohl auf dem Cranz'schen Bericht als auch auf der mündlichen Überlieferung dieser für die Herrnhuter Brüdergemeine bedeutsamen Geschichte. Ein wichtiges Medium der mündlichen Tradierung in der Brüdergemeine waren und sind Lieder. Friedrich Böhnisch, aus dessen Feder auch mehrere Lieder im Gesangbuch der Brüdergemeine stammen, vertrat die Auffassung, die Liedersammlung der Gemeinde solle auch ein Geschichtswerk sein. Lieder dienten in der Gemeinde außerdem als probates Mittel zur Vermittlung erbaulichen Gedankenguts.

III. Beispiele für die Rezeption der Grönlandmission und der Kajarnak-Episode innerhalb der Brüdergemeine sind ein Liederzyklus Carl Julius Spindlers, eines weiteren Herrnhuter Missionars in Grönland, aus dem Jahr 1891, sowie mehrere Lieder im Gesangbuch der Herrnhuter Brüdergemeine (insbesondere "Da ist ein Häuflein Seelen" von Friedrich Böhnisch, Nr. 1260 im Herrnhuter Gesangbuch von 1735). Zwar unterscheiden sich die Texte in ihren Formulierungen; sie thematisieren jedoch alle auf ähnliche Weise die mühsamen Anfangsjahre der Grönlandmission und die Taufe des "Erstlings" Kajarnak. Nach Russland gelangt ist die Erzählung von Kajarnak und den Anfängen der Grönlandmission wahrscheinlich durch Mitglieder der Brüdergemeine. Herrnhuter Missionare gründeten 1765 (dem Erscheinungsjahr der Cranz'schen "Historie") an der unteren Wolga die "Kolonie Sarepta". Die Siedlung wurde, wie eine Reihe anderer russlanddeutscher "Kolonien", im Kontext der Ansiedlungspolitik Katharinas II. gegründet. 1892, nachdem die von Katharina zugesagten Privilegien der Kolonisten wieder aufgehoben wurden, zog sich die Brüdergemeine aus Sarepta zurück. Die Reste der Siedlung gehören heute zum südlichsten Stadtteil Wolgograds. Der Aufbau und Unterhalt Sareptas erwies sich als schwieriger denn erwartet. Zudem wurde die Missionstätigkeit der Herrnhuter von den russischen Autoritäten zunächst lediglich geduldet und schließlich untersagt. In diesem Kontext könnte die Entstehung des vorliegenden Liedes angesiedelt werden. Die Parallelen zwischen der Situation in Grönland und Russland sind offensichtlich und die "Erfolgsgeschichte" der Grönlandmission könnte einen erbauliches Charakter im Herrnhutschen Sinn gehabt haben.

IV. Dass der Gegenstand dieses Liedes über die Kreise der Herrnhuter Gemeine hinaus tradiert wurde, lag wohl zum einen an den vielfältigen Kontakten zwischen Mitgliedern der Brüdergemeine und anderen russlanddeutschen Siedlern. Begegnungen ergaben sich zum Beispiel im Rahmen seelsorgerischer Tätigkeiten der Herrnhuter in protestantischen Nachbargemeinden und im Kontext wirtschaftlicher Kooperationen. Außerdem konnten sich bestimmt auch die nicht-Herrnhuter unter den Russlanddeutschen mit dem Liedinhalt identifizieren: eine optimistisch stimmende Durchhaltegeschichte mit dem Tenor "was lange währt wird endlich gut". Nicht eindeutig zu klären ist der genaue Entstehungszusammenhang des Liedes. Ein deutliches Indiz dafür, dass das vorliegende Lied tatsächlich in den russlanddeutschen Siedlungen verfasst wurde, ist das Initium. Anfangszeilen, in denen ein Datum genannt wird, finden sich in einer Reihe kolonistischer Lieder (beispielsweise "Wir schreiben jetzt schon 17 Jahr", "Juli sechzehn fing es an zu regnen", "Neunzehnhundert neunzehn Jahr, in dem Monat Februar") und scheinen eine typische Anfangsfloskel zu sein. Ob die Kajarnak-Geschichte jedoch in der Herrnhuter Gemeine in Sarepta oder in einer anderen russlanddeutschen Siedlung die vorliegende Textform erhalten hat, ließ sich nicht klären. Die Analogien in der Terminologie ("Kolonie") sind lediglich eine Parallele im zeitgenössischen Sprachgebrauch (sowohl Cranz, der Neuherrnhuter Chronist, als auch die russlanddeutschen Siedler, nennen ihre neu gegründeten Ortschaften "Kolonie"), jedoch kein Hinweis auf den Entstehungsort oder -kontext. Zum Zeitpunkt der Aufzeichnung, rund vier Dekaden nachdem die Herrnhuter Russland verlassen hatten, spielte dieses Lied sicher nur noch eine marginale Rolle im Repertoire der Russlanddeutschen und zeugt lediglich vom Fortwirken der ehemaligen Kontakte in einer vergangenen Zeit.

INGRID BERTLEFF
(Dezember 2008)



Weiterführende Literatur
  • David Cranz: Historie von Grönland. Teil I und II. Nachdruck der Ausgabe Barby 1765. Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 1995.
  • Theodor Fontane: Vor dem Sturm. Berlin, Weimar: Aufbau, 1969.
  • Herrnhuter Gesangbuch. Christliches Gesang-Buch der Evangelischen Brüdergemeinen von 1735. Nachdruck der 3. rev. Auflage 1741. Hildesheim, New York: Olms, 1981.
  • Carl Julius Spindler: Kajarnak. Ein grönländisches Gedicht. Herrnhut 1891. Ins Dänische übersetzt von Guldborg Chemnitz. Kopenhagen 1965.
außerdem:
  • Friedrich Wilhelm Bautz: Artikel "Johann Beck" und "Friedrich Böhnisch". In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. I. Nordhausen: Bautz, 1990, Sp.444-445, 667.
  • Fritz Behrend: Zu Fontanes "Kajarnak der Grönländer". In: Euphorion, Bd. 30, 1929, S. 249-254.
  • Daniel Heinz: Artikel "David Cranz". In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XVI. Nordhausen: Bautz, 1999, Sp. 324-336.
  • Heinz Israel: Kulturwandel grönländischer Eskimo im 18. Jahrhundert. Wandlungen in Gesellschaft und Wirtschaft unter dem Einfluss der Herrnhuter Brüdermission. Berlin: AkademieVerlag, 1969.
  • Werner Petermann: David Cranz (1723-1777) – Der Sekretär des Grafen Zinzendorf. In: ders.: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal: Peter Hammer, 2004, S. 260 f.
  • Theophilus Reichel: Die Anfänger der Brüdermission in Grönland: Matthäus Stach, Friedrich Böhnisch, Johann Beck. Rothenburg: Pohl, 1841.
  • Otto Teigeler: Die Herrnhuter in Russland. Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006.
  • Anja Wehrend: Musikanschauung, Musikpraxis, Kantatenkomposition in der Herrnhuter Brüdergemeine. Ihre musikalische und theologische Bedeutung für das Gemeinleben von 1727 bis 1760. Frankfurt/Main u. a.: Peter Lang, 1995.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: Einzelbeleg aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: —
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Von Anno '34 an (2008). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/von_anno_34_an/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 16.09.2013 01:49
 

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