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Verehrter Herr und König

(Das Hungerlied)

Das Gedicht "Hungerlied" ("Verehrter Herr und König") wurde um 1844/1845 von dem sozialistisch engagierten Schriftsteller Georg Weerth geschrieben. In drei kurzen Strophen wird darin die Not von Hunger leidenden Menschen zum Ausdruck gebracht. Zu Lebzeiten Weerths wurden diese Verse jedoch nicht veröffentlicht und über eine Rezeption des Gedichtes im 19. Jahrhundert ist nichts bekannt. Erst im Rahmen des deutschen Folkrevivals ab den 1970er Jahren wurde der Text durch verschiedene Vertonungen neu belebt.

I. Der Schriftsteller Georg Weerth (1822–1856) war ein enger Parteigänger von Friedrich Engels und Karl Marx. Zur Entstehungszeit des Gedichts lebte er als kaufmännischer Angestellter eines Kammgarn- und Wollunternehmens in Bradford (England) und konstatierte: "Jede andere Fabrikstadt Englands ist ein Paradies gegen dieses Nest; die Luft in Manchester liegt einem wie Blei auf dem Kopfe; in Birmingham ist es nicht anders, als säße man mit der Nase in einer Ofenröhre; in Leeds muß man vor Staub und Gestank husten, als hätte man mit einem Male ein Pfund Cayennepfeffer verschluckt – aber alles das läßt sich noch ertragen! In Bradford glaubt man aber nirgendsonstwo als beim leibhaftigen Teufel eingekehrt zu sein. […] Wenn jemand fühlen will, wie ein armer Sünder vielleicht im Fegefeuer gepeinigt wird, so reise er nach Bradford" (Weerth 1847/48). Weerth kannte somit auch die Lage der Arbeiterschaft aus eigener Anschauung. In seinem 1844/45 entstandenen Gedichtzyklus "Die Not" thematisierte er anhand verschiedener Handwerker- und Arbeiterfiguren das soziale Elend und die Strukturen der Ausbeutung, denen sie unterworfen sind. Das "Hungerlied" nimmt darin als abschließender Text eine exponierte inhaltliche Rolle ein. Zur Publikation des elfteiligen Zyklus ist es zu Weerths Lebzeiten nicht gekommen. Lediglich fünf Gedichte daraus erschienen ab 1845 unter dem Titel "Lieder aus Lancashire". Das "Hungerlied" war jedoch nicht dabei; es hat sich nur als Autograph von Weerth erhalten (Edition A).

II. In Weerths Versen sprechen die Hungernden den mächtigsten Repräsentanten des Staates, den König, direkt auf ihre Notlage an und berichten ihm in knappen, nüchternen Worten von ihrer verzweifelten Lage. Strukturgebend für das kurze dreistrophige Gedicht ist eine simple Aufzählung der einzelnen Wochentage: Diese pointierte Perspektive auf den Alltag beschreibt jedoch nicht die im Verlauf einer Woche wechselnden Tätigkeiten, sie fokussiert vielmehr das für die einfachen Leute beständig Gleichbleibende: den bohrenden Hunger, der jeden dieser Tage hartnäckig begleitet. Das einzige, was sich verändert, sind die Worte mit denen der tagtägliche Hunger zum Ausdruck gebracht wird. Die formgebende Auflistung der Wochentage ist ein Stilmittel, das Raum für vielfältige Assoziationen eröffnet, von liedhaften Erzählstrukturen bis hin zu Anklängen an die Schöpfungsgeschichte. Allerdings ist der Sonntag in diesem Gedicht kein Ruhetag, sondern ein Tag der Abrechnung. Der Text endet mit der unverhohlenen Drohung, am Sonntag den König selbst zu "fressen", falls er bis dahin nicht dafür gesorgt habe, dass die Hungernden mit Brot versorgt werden – eine unverblümte Anspielung auf die Möglichkeit eines gewaltsamen Aufstandes.

III. Weerths Gedicht entstand zur Zeit der Hungersnot unter den schlesischen Webern und hat somit den gleichen zeitgeschichtlichen Hintergrund wie das Lied vom "Blutgericht" ("Hier am Ort ist ein Gericht") und Heines "Weberlied" ("Im finstern Auge keine Träne"). Es gibt im "Hungerlied" jedoch keine greifbaren Bezüge zur Situation in Schlesien. Weerth zielte vielmehr auf die Lage der Arbeiterschaft im Allgemeinen (nicht zuletzt durch den Kontext im Zyklus "Die Not"). Wie viele seiner Texte und Gedichte blieb "Verehrter Herr und König" zu Weerths Lebzeiten ungedruckt. Es dauerte über 100 Jahre, bis das Gedicht 1952 in Bruno Kaisers Anthologie "Die Achtundvierziger" erstmals veröffentlicht worden ist (Edition B). Zu einem gesungenen Lied wurde Weerths Text aber erst im Zuge der Liedermacher- und Folkbewegung der 1970er Jahre. Damals erschienen verschiedene Vertonungen des "Hungerliedes", das seit Dieter Süverkrüps "1848"-Schallplatte (1973) vor allem im Kontext der revolutionären 1848er-Lieder rezipiert worden ist. Tonträger waren hierbei das primäre Medium, durch welches das "Hungerlied" in unterschiedlichsten Arrangements zwischen Folk und Folkrock verbreitet wurde (ausführlich dazu: Robb/John 2010). In der DDR spielte dagegen das Livekonzert eine wichtigere Rolle, zumal bei Gruppen wie "Wacholder", die 1984 eine bemerkenswerte Version des Liedes innerhalb ihres Liedertheater-Programms "Trotz Alledem. Revolutionslieder 1848" aufführte.

DAVID ROBB
ECKHARD JOHN
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(April 2010)



Literatur
Editionen und Referenzwerke
  • Georg Weerth: Vergessene Texte. Werkauswahl Band 1. Nach den Handschriften hrsg. von Jürgen-W. Goette, Jost Hermand und Rolf Schloesser. Köln 1975, S. 162f und S. 181.
  • Georg Weerth: Sämtliche Werke. Erster Band: Gedichte. Berlin 1956, S. 193 und S. 301.

Weiterführende Literatur
  • Uwe Zemke: Georg Weerth in Bradford. In: Georg Weerth. Neue Studien. Hrsg. von Bernd Füllner. Bielefeld 1988, S. 125–180.
  • Ernst Weber: Zur Funktion der Volksliedelemente in Georg Weerths Gedichtzyklus "Die Not" (1844/45); in: Jahrbuch für Volksliedforschung 32 (1987), S. 39–63.
  • Georg Weerth: Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten, Kap. VI. (1847/48). In: Georg Weerth: Vegessene Texte. Werkauswahl Band 1. Nach den Handschriften hrsg. von Jürgen-W. Goette, Jost Hermand und Rolf Schloesser. Köln 1975, S. 225–244 (Zitat S. 231).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: —
  • Gedruckte Quellen: selten in Gebrauchsliederbüchern (nach 1970)
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: selten auf Tonträgern
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
David Robb, Eckhard John: Verehrter Herr und König (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/verehrter_herr_und_koenig/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 05.12.2013 11:40
 

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