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Spinn, spinn, meine liebe Tochter


"Spinn, spinn, meine liebe Tochter" gehört einem in vielen Sprachen belegten Typus von Scherzliedern zu, in denen eine junge Frau im Zwiegespräch mit ihrer Mutter ihren Wunsch nach einem Ehemann durchsetzt. Der deutsche Text des Liedes erschien erstmals 1808 in "Des Knaben Wunderhorn", mit der heute bekannten Melodie wurde es zuerst 1839 durch den Volksliedsammler Ludwig Erk veröffentlicht. Mit Aufnahme ins Repertoire der Wandervogel-Bewegung setzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine breitere Rezeption des Liedes ein.

I. "Spinn, spinn, meine liebe Tochter" erschien erstmals 1808 im dritten Band der romantischen Volksliedsammlung "Des Knaben Wunderhorn" der Schriftsteller Achim von Armin und Clemens Brentano (Edition A). Ihr wohl wichtigster Zuträger, Johann Carl Nehrlich (1773–1849), hatte den Liedtext in Schwaben aus mündlicher Überlieferung aufgezeichnet. In seiner zwei Jahre darauf erschienenen Sammlung "Vier und zwanzig Alte deutsche Lieder aus dem Wunderhorn mit bekannten meist älteren Weisen beym Klavier zu singen" wies Johan Nikolaus Böhl "Spinn, spinn, meine liebe Tochter" eine Melodie aus "Der Lieder zum unschuldigen Zeitvertreib erste Fortsetzung" (Lübeck 1754) von Adolph Carl Kunzen (1720–1781) zu. In dieser Fassung fand das Lied jedoch wenig Widerhall (Edition B mit Anmerkung). Der Volksliedsammler Ludwig Erk (1807–1883) veröffentlichte 1839 den ersten Beleg von "Spinn, spinn, meine liebe Tochter" aus mündlicher Überlieferung mit Melodie: Im dritten, gemeinsam mit Wilhelm Irmer herausgegebenen Heft "Die deutschen Volkslieder mit ihren Singweisen" erschien eine in Moers (Niederrhein) aufgezeichnete Fassung des Liedes, die in textlich modifizierter Form in Erks "Deutschen Liederhort" (Berlin 1856) Eingang fand (Edition C). Sie wurde in der Folge zur Standardversion von "Spinn, spinn, meine liebe Tochter" in Gebrauchsliederbüchern; auf die von Erk mitgeteilte Melodie wird das Lied bis heute gesungen (z. T. auch mit leichten Abweichungen; s. Edition D).

II. "Spinn, spinn, meine liebe Tochter" ist ein Scherzlied über den drängenden Heiratswunsch einer jungen Frau, die Garn spinnen soll (zum literarischen Topos des Mädchens am Spinnrad s. Heitmann 2010). Um ihre Tochter zur Arbeit zu motivieren, bietet die Mutter an, ihr Schuhe, Strümpfe oder ein Kleid zu "kaufen" (auch: zu "geben"; s. Edition C mit Anmerkung). Jedes Mal aber erwidert das Mädchen, sie könne nicht spinnen, weil ihre Finger schmerzen würden. Schließlich stellt die Mutter ihrer Tochter einen Ehemann in Aussicht, und sogleich sind deren Leiden behoben: "Ja, ja meine liebe Mutter, / der steht mir wohl an; / kann wahrlich gut spinnen, / von all meinen Fingern / thut keiner mehr weh" (Edition A, Str. 3).

III. "Spinn, spinn, meine liebe Tochter" gehört im weiteren Sinne einem Typus von Liedern zu, in denen eine junge Frau im Zwiegespräch mit ihrer Mutter ihren Wunsch nach einem Ehemann durchsetzt. Auch jenseits des deutschsprachigen Raums ist dieses Liedmotiv häufig belegt (dazu weiterführend Bronzini 1967). Bereits in einer niederländischen Liederhandschrift aus dem Jahr 1537 findet sich ein entsprechendes Beispiel, wobei die Tochter hier gleich zur Sache kommt: "Můder, lieůe můeder, nvv gebbt my einen man" (s. Het Zutphens Liedboek 1985). Auch hier wird über mehrere Strophen zwischen Mutter und Tochter verhandelt, bis die Tochter schließlich ihren Wunsch erfüllt bekommt. Im 18. Jahrhundert war in Frankreich das Lied "Ma fille, veux-tu un bonnet?" ("Meine Tochter, möchtest Du eine Haube?") populär, offenbar ein Lieblingslied von Königin Marie Antoinette (s. Joli Tambour 1911). Aus dem 19. Jahrhundert sind entsprechende Lieder etwa aus dem Slowenischen, aus Ungarn, Dänemark und Flandern überliefert. In dem Lied "Mudd'r, ick will en Ding hebben!", das der Jurist und Heimatforscher Ludolf Parisius (1821–1900) in den 1850er Jahren in der Nähe von Magdeburg aufzeichnete, muss die Mutter selbst herausfinden, worauf die Tochter hinauswill: "Wat vörn Ding, min lewes Kind? Wist du denn ne Schörte / en Rock / en Kleed / en Mann hebben?" "Ja, Mudder, ja!" (s. Weber-Kellermann 1957).

IV. Im 19. Jahrhundert wurde "Spinn, spinn, meine liebe Tochter" nur vereinzelt in Gebrauchsliederbüchern veröffentlicht. Die eigentliche Rezeption beginnt hier erst Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Entdeckung des Liedes durch die Wandervogel-Bewegung (Edition D). Es erfuhr rasch eine große Verbreitung. Seit etwa 1960 aber ist die Zahl der Publikationsbelege deutlich rückläufig. Eine französische Übersetzung von "Spinn, spinn, liebe Tochter" erschien in den 1930er Jahren unter dem Titel "La Fileuse" (Edition E). Stark verankert war das Lied noch Mitte des 20. Jahrhundert in der Singpraxis der Pennsylvania-Deutschen, überwiegend Angehörige protestantischer Gruppierungen wie Mennoniten, Amische und Herrnhuter Brüdergemeine, die seit dem 17. Jahrhundert in die USA einwanderten und dort ihre Kultur und ihre (dem Pfälzischen verwandte) Sprache weiter pflegten. In einer 1951 erschienenen Sammlung mit "Pennsylvania Dutch Folksongs" findet sich eine zehnstrophige Fassung von "Spinn, spinn, liebe Tochter" (Edition F) mit dem Herausgebervermerk: "Wherever Pennsylvania Dutch people meet even today, this is one of the songs that is inevitably sung."

FRAUKE SCHMITZ-GROPENGIESSER
Liedrecherche: Johanna Ziemann
(März 2013)



Editionen und Referenzwerke
  • Het Zutphens Liedboek Ms. Weimar Oct 146. Hrsg. von H. J. Leloux. Zutphen 1985, S. 152f. (Nr. 34).
  • Rölleke/Wunderhorn 1977/78, Bd. 8, S. 43; Bd. 9/3, S. 80–83.
  • Ingeborg Weber-Kellermann: Ludolf Parisius und seine altmärkischen Volkslieder. Berlin 1957 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin: Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Volkskunde, Bd. 10), S. 334f. (Nr. 372).
  • Joli Tambour! Das französische Volkslied. Hrsg. von Hanns Heinz Ewers und Marc Henry. München o. J. [1911], S. 61f.
  • Erk/Böhme 1894, Bd. 2, S. 640 (Nr. 838a).

Weiterführende Literatur
  • Christin Heitmann: Ewig weiblich, ewig drehend? Das Mädchen am Spinnrad – ein Topos in Literatur und Musik des 19. Jahrhunderts. In: Musikgeschichten – Vermittlungsformen. Festschrift für Beatrix Borchard zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Martina Bick, Julia Heimerdinger und Krista Warnke. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2010, S. 43–65.
  • Giovanni B. Bronzini: Filia, visne nubere? Un tema di poesia popolare. Rom 1967.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: zahlreiche Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: vereinzelt auf Flugschriften, sehr häufig in Gebrauchsliederbüchern, etliche sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: etliche Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Frauke Schmitz-Gropengiesser: Spinn, spinn, meine liebe Tochter (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/spinn_spinn_meine_liebe_tochter/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 29.09.2016 11:04
 

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