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Smelo, tovarišči, v nogu (Смело, товарищи, в ногу)


Das politische Kampflied "Smelo, tovarišči, v nogu" (Vorwärts Genossen, im Gleichschritt) ist eines der bekanntesten Lieder der russischen Arbeiterbewegung, das zugleich eine große internationale Ausstrahlung hatte. Die Ursprünge des Liedes liegen in der Zeit des russischen Zarenreiches: Verfasst hat es 1897 der Autor und politische Aktivist Leonid Radin. "Smelo, tovarišči, v nogu" gilt als das erste revolutionäre Lied der russischen Arbeiterbewegung. Es stammt noch aus der Zeit vor der Spaltung der russischen Sozialdemokratie in Menschewiki und Bolschewiki (1903). Erste Verbreitung fand das Lied im Zuge der russischen Revolution von 1905. Während den Revolutionen 1917 spielte es erneut eine markante Rolle. Seitdem wurde es als russisches Revolutionslied in etliche andere Sprachen übersetzt. In der Sowjetunion gehörte "Smelo, tovarišči, v nogu" als proletarische Hymne zum staatstragenden Kanon der prominentesten sozialistischen Lieder.

I. Der Chemiker und Erfinder Leonid Petrovič Radin (1860–1900) war schriftstellerisch verschiedentlich tätig und zählte zu jenen Aktivisten der russischen Sozialdemokratie, die aufgrund ihres politischen Engagements von der zaristischen Geheimpolizei verfolgt wurden. Radin war ein führendes Mitglied der 1894 gegründeten "Arbeiter-Union" (Rabočij sojuz), der ersten sozialdemokratischen Organisation in Moskau. Anfang November 1896 wurde er deswegen verhaftet – und starb bereits vier Jahre später an den gesundheitlichen Folgen von Haft und Verbannung. Den Erinnerungen von Mithäftlingen zufolge hat Radin das Lied "Smelo, tovarišči, v nogu" während seiner Einzelhaft im Moskauer Taganka-Gefängnis im Jahr 1897 geschrieben. Als er 1898 nach Jaransk (im Gouvernement Wjatka) verbannt wurde, soll Radin sein neues Lied bereits auf den Etappen des Gefangenentransportes dorthin im Kreis der politischen Häftlinge verbreitet haben. "Smelo, tovarišči, v nogu" stieß bei den politischen Häftlingen des Zarismus augenscheinlich auf gute Resonanz. Auch Lenin hat das Lied offenbar schon 1898 in seinem sibirischen Verbannungsort (Šušenskoje) durch einen neu eingetroffenen Häftling kennen und schätzen gelernt. Zwei Jahre später, kurz nach Radins frühem Tod, wurden seine Verse in der Zeitschrift "Rote Fahne" (Krasnoe znamja, 1900, Nr. 3) veröffentlicht. Mit Noten erschien das Lied erstmals 1902 in einer Liedsammlung der Zeitschrift "Iskra" (Funke), dem Parteiorgan der russischen Sozialdemokratie (Edition A).

II. "Smelo, tovarišči, v nogu" ist ein unverhüllter Aufruf, die Unterdrückung der arbeitenden Bevölkerung nicht länger hinzunehmen und zum Kampf dagegen anzutreten. Radins Text ist unmissverständlich, getragen von revolutionärem Elan, argumentativen Eifer und aktivistischem Zukunftsoptimismus. Der Liedtext weist in seiner Form und den sprachlichen Bildern einige Bezüge auf zu einem anderen politischen Lied, das im Kreise der russischen Sozialrevolutionäre (der "Narodniki") bekannt geworden war: "Smelo, druz'ja! Ne terjajte bodrost' v neravnom boju" (Tapfer, Freunde! Verliert nicht den Mut im ungleichen Kampf), geschrieben 1861 von Michail L. Michajlov. Auch die Melodie von "Smelo, tovarišči, v nogu" leitete sich möglicherweise von einem bereits vorhandenen russischen Lied ab, doch ist ihre Herkunft bislang nicht eindeutig geklärt. Die russische Liedforschung bietet unterschiedlichste Thesen und Vermutungen über die Ursprünge dieser Weise: Zuschreibungen zu polnischer bzw. lettischer Volksmelodik, Anleihen bei Verdi, Chopin und Tschaikowski, aber auch der Textautor Radin wird verschiedentlich als Schöpfer der Melodie angesehen. Am einflussreichsten wurde die These von Jevgenij Gippius und P. Širjajeva, die als melodische Vorlage für "Smelo, tovarišči, v nogu" das 1858 entstandene Studentenlied "Medlenno dvižetsja vremja" (Langsam bewegt sich die Zeit) ansehen. Doch die früheste bislang bekannte Quelle für diese Melodie stammt aus dem Jahr 1906 – und zu diesem Zeitpunkt war auch "Smelo, tovarišči, v nogu" bereits einige Jahre im Umlauf. Somit bleibt die Frage nach der tatsächlichen Herkunft der "Smelo, tovarišči"-Melodie weiterhin offen, auch wenn die Identifizierung mit erwähntem Studentenlied publizistisch inzwischen vielfach fortgeschrieben wurde.

III. In den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende ging Radins Lied zunächst noch vielfach mit dem Incipit "Družno, tovarišči, v nogu" (Gemeinsam, Genossen, im Gleichschritt) einher. Doch mit der größeren Verbreitung, die das Lied vor allem im Kontext der russischen Revolution 1905 erfuhr, setzte sich der Textbeginn mit "Smelo…" zunehmend durch. Von Radins ursprünglich sieben Strophen (s. Edition G) wurden schon frühzeitig lediglich sechs ins Repertoire der Lieddrucke und Liederbücher übernommen (s. Edition A). Die Revolution 1905 war für die Popularisierung des Liedes der grundlegende Faktor: In diesem Kontext stieß es auf entsprechende Resonanz und seine Verbreitung hielt auch in den Jahren danach an. Als politisches Kampflied spielte "Smelo, tovarišči, v nogu" im Rahmen der revolutionären Ereignisse 1917 erneut eine prominente Rolle und wurde vielfach publiziert. Nach der Februarrevolution erschien es beispielsweise auch als Klavierlied in einem damals bekannten Moskauer Musikverlag (Edition B), und nach der Machtübernahme der Bolschewiki brachte der neue sowjetische Staatsverlag auch Chorfassungen des Liedes heraus (Edition C). Schon in den ersten Jahren der Sowjetherrschaft und des russischem Bürgerkriegs spiegelte sich Verbreitung und Symbolwert des Liedes auch in Umdichtungen und Parodien. Seit dieser Zeit avancierte "Smelo, tovarišči, v nogu" rasch zu einem der bekanntesten musikalischen Symbole für den politischen Umsturz und wurde zu einer über Jahrzehnte gepflegten Ikone der Oktoberrevolution.

IV. Im Dezember 1917 lernte der deutsche Dirigent Hermann Scherchen das Lied während politischer Kundgebungen in Petrograd kennen. Scherchen hatte die Jahre des Ersten Weltkrieges als Zivilinternierter in Russland verbringen müssen und erlebte dadurch die revolutionären Veränderungen direkt vor Ort. Rückblickend berichtete er, wie nachdrücklich ihm "Smelo, tovarišči, v nogu" bei einer Demonstration anlässlich der Bekanntgabe der Brest-Litowsker Friedensvorschläge in Erinnerung blieb: das Lied "begleitete ohne Aufhören den vielstündigen Vorbeimarsch; immer wieder hämmerte sich mir die Melodie in die Ohren" (Scherchen 1928). Nach seiner Rückkehr nach Deutschland arrangierte Scherchen das Lied für seine Berliner Arbeiterchöre und verfasste dazu einen eigenständigen deutschen Text: "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit". Dieses Lied wurde in Kürze eines der einflussreichsten Lieder der deutschen Arbeiterbewegung. Aber auch in anderen Ländern Westeuropas fand "Smelo, tovarišči, v nogu" ab den 1920er Jahren Verbreitung und wurde als eines der bedeutendsten russischen Revolutionslieder in verschiedene Sprachen übertragen. In Paris erschien 1925 "Hardi Camerades!", eine Übersetzung von Maurice Parijanine (mit dem Textanfang "Marchons au pas, camerades"), die in Frankreich starke Verbreitung fand (Edition D). In Prag kam 1926 die tschechische Übersetzung "Jen smèle, soudruzi, k dílu" von Jan Urban heraus (Edition E), und in London veröffentlichte Alan Bush, ein Protagonist der britischen Arbeitermusikbewegung, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mit "Workers, unite for the battle" eine englische Version des Liedes (Edition F). Parallel dazu wurde auch Scherchens deutscher Liedtext in weitere Sprachen übersetzt, so dass "Smelo, tovarišči, v nogu" musikalisch auch in Norwegen ("Brödre, til sol og til frihet"), Dänemark ("Brødre, lad våbnene lyne"), Slowenien ("Bratje le k soncu") sowie etlichen anderen Ländern Verbreitung fand, und sich das Lied als eine internationale Hymne der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts etablierte.

V. In der UdSSR zählte "Smelo, tovarišči, v nogu" zum Kanon der prominentesten sowjetischen Lieder. Während der Text des Liedes über die Jahre ziemlich konstant blieb, veränderte sich seine melodische Gestalt zwischen 1930 und 1950 etwas und näherte sich der von Hermann Scherchen ausgehenden Fassung an (John 2007), so dass die in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg gepflegte Liedmelodie nunmehr den auch international verbreiteten Versionen weitgehend entsprach (Edition G). Als proletarische Hymne wurde sie in der UdSSR zu einem prägnanten Symbol für die frühe revolutionäre Arbeiterbewegung Russlands. Dessen Tradierung ging mit der Erinnerung daran einher, dass schon Lenin dieses Lied besonders gemocht haben soll. Vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen und die Sowjetgesellschaft prägenden Lenin-Kultes wurde diese Facette der Liedgeschichte ein beständiges Narrativ seiner institutionalisierten Wertschätzung. Der starke Symbolcharakter des Liedes zeigt sich auch in seiner zitathaften Verwendung in etlichen Werken russischer und sowjetischer Komponisten, in denen es als musikalische Metapher für die proletarische Revolution oder für die Sowjetmacht fungiert.

ECKHARD JOHN
(Mai 2013)



Literatur
  • Je. Gippius, P. Širjajeva: Smelo, tovarišči, v nogu. In: Biografii pesen. Moskau 1965, S. 74–89.
  • J. Gippius, P. Schirjajewa: Brüder zur Sonne zur Freiheit. In: Beiträge zur Musikwissenschaft 4 (1962), H. 3/4 (Sonderheft Arbeiterlied), S. 235–244 (Übersetzung aus Sovetskaja muzyka 1961, Nr. 7).

Weiterführende Literatur
  • Eckhard John: "Brüder zur Sonne zur Freiheit". Zur Topographie des politischen Liedes im 20. Jahrhundert. In: Good-Bye Memories? Lieder im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts. Hrsg. Barbara Stambolis, Jürgen Reulecke. Essen 2007, S. 51–77 (zu melodischen Unterschieden S. 60).
  • Hermann Scherchen: Rußland 1917 und 1927. In: Deutsche Arbeiter-Sängerzeitung 29 (1928), Nr. 4 (15. April), S. 49f.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: — (nur russische Quellen)
  • Gedruckte Quellen: — (nur russische Quellen)
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: — (nur russische Quellen)
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Eckhard John: Smelo, tovarišči, v nogu (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/smelo_tovarisci_v_nogu/>.


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last modified 13.02.2015 01:34
 

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