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Sah ein Fürst ein Büchlein stehn

(Freiheits-Büchlein)

Das Gedicht "Sah ein Fürst ein Büchlein stehn" wurde von dem Hamburger Juristen Leberecht Dreves als Parodie auf Goethes "Sah ein Knab ein Röslein stehn" verfasst. Der 1843 veröffentlichte Text war eine Satire auf die literarische Zensur im Vormärz. Als Lied scheint es im 19. Jahrhundert keine nennenswerte Rolle gespielt zu haben. Seine (Wieder-)Entdeckung verdankt der Text dem neuen Interesse an den Liedern der 1848er Revolution in den 1970er und 1980er Jahren.

I. Der Autor Leberecht Blücher Dreves (1816–1870) war zur Zeit der Entstehung des Gedichts in Hamburg als Advokat tätig und leitete von 1842/43 auch die "Neuen Hamburger Blätter". Die parodistischen Verse "Sah ein Fürst ein Büchlein stehn" entstanden 1838 und erschienen anonym in seinem Buch "Lieder eines Hanseaten", das 1843 vom Verleger August Prinz in Wesel herausgebracht wurde (Edition A). Eine Hamburger Polizeiakte aus demselben Jahr belegt die Verfasserschaft von Dreves ebenso wie die Zensurgeschichte dieses Gedichtbandes: Demnach wurde der Verleger August Prinz nach Erscheinen des Buches im März 1843 aus Hamburg ausgewiesen und allen Hamburger Buchhändlern war der Verkauf des Buches bei 25 Talern Strafe verboten. Außerdem sind der Buchdrucker Heinrich Gottfried Voigt sowie der zuständige Zensor in Altona, Justizrat Brodersen, zum Gegenstand polizeilicher Ermittlungen geworden, die aber am 12. Mai 1843 mangels Beweis eingestellt wurden (Rosenbacher 1918).

II. Die Verse "Sah ein Fürst ein Büchlein stehn" parodieren ganz unverblümt das berühmte Goethe-Gedicht "Sah ein Knab ein Röslein stehn". Der Untertitel "Freiheits-Büchlein" enthält jedoch noch eine weitere literarische Anspielung, die unmittelbar auf das Thema Zensur verweist: 1805 hatte Jean Paul sein "Freiheits-Büchlein" verfasst, in dem er vehement für den freien Austausch von Ideen in Büchern und Zeitschriften ohne Einmischung von Seiten des Staates oder der Kirche plädierte. Anknüpfend an Jean Pauls Anliegen verspottet Leberecht Dreves in drei Strophen die Kontraproduktivität von Zensurmaßnahmen. Das Verbot des "Büchleins", das vom Fürsten in einem Buchladen entdeckt und "mit tausend Schrecken" gelesen wurde, bewirkt nämlich letztlich das Gegenteil: es wird nun erst recht herumgereicht und sein Inhalt erreicht viele Leute ("Büchlein, Büchlein litt nicht Not / Ging recht ab wie warmes Brod, / ging von Hand zu Hande."). Diese ironische Pointe des Gedichtes erlebten bekannte Autoren jener Jahre wie Heine, Freiligrath oder Hoffmann von Fallersleben tatsächlich, als die Drohung eines Verbotes des öfteren zugunsten publizistischer Zwecke wirkte, indem politische Dichtung zu einer begehrten "Ware" wurde.

III. Über die Rezeption des Gedichts im 19. Jahrhundert ist bislang wenig bekannt. Möglicherweise haben die Zensurmaßnahmen gegen das 1843 veröffentlichte Buch eine größere Verbreitung verhindert. Der Text ist erst über vierzig Jahre später wieder veröffentlicht worden, bezeichnenderweise in der Zeit von Bismarcks Sozialistengesetz, als oppositionelle Bücher neuerlich nur im Ausland erscheinen konnten: Er erschien 1886 in einem Liederbuch für Buchhändler (Edition B). Man kann das als Indiz dafür werten, dass sich die Bekanntheit dieses satirischen Textes weitgehend auf Kreise jener Leute, die beruflich mit Büchern zu tun hatten, beschränkte. Im Vorwort weist der Redakteur der Sammlung jedenfalls darauf hin, dass die berücksichtigten Lieder "im Kollegenkreise" gern gesungen worden seien und durch diese Veröffentlichung "vor dem völligen Vergessen bewahrt" werden sollten. Tatsächlich aber blieb das Lied vom "Freiheits-Büchlein" fast ein ganzes Jahrhundert lang vergessen – bis es in den späten 1970er Jahren von einem professionellen Bücherwurm wiederentdeckt wurde.

IV. Es war die Bibliothekarin des Deutschen Volksliedarchivs, Barbara Boock (damals: James), die 1978 auf das Büchlein mit "Liedern eines Hanseaten" stieß und darin Dreves' Gedicht fand. Und da sie nicht nur Forscherin sondern zugleich auch eine Aktivistin des deutschen Folkrevivals war, kam dieser Fund damals rasch "unter's Folk": Der Liedermacher und Autor Walter Moßmann stellte es umgehend an den Anfang seines mit Peter Schleuning verfassten Buches "Alte und neue politische Lieder" (Hamburg 1978) und brachte es 1979 erstmals auf Schallplatte heraus. Im gleichen Jahr sang es auch Manfred Jasper (von der Folkgruppe "Moin") auf einer Abendveranstaltung zum 22. Deutschen Volkskundekongress in Kiel zum Thema "Geschichte in Liedern". In der Folge erschien das Lied häufig in einschlägigen Liedsammlungen und kam auch rasch von Westdeutschland in die DDR. Bereits 1981 war es dort in einem Liederheft der DDR-Folkgruppen "Wacholder" und "Heureka" enthalten (Edition C). War solch ein Text über aristokratische Zensurpraktiken in der Bundesrepublik eher von historischem Interesse – Walter Moßmann sah darin eine "Ohrfeige für Goethe", da Dreves die politischen Herrschaftsverhältnisse ("Fürst" und "König") mit der sexuellen Gewalt von Goethes "wildem Knaben" parallelisiere –, so hatte er in der DDR eine eindeutig aktuelle Relevanz. Seine politische Sprengkraft zeigte sich dort in Konzerten wie dem Liedertheater-Programm "Trotz Alledem" (1984) der Gruppe "Wacholder", in dem auch das "Freiheits-Büchlein" aufgeführt wurde und das Publikum bei Zeilen wie "Büchlein, Büchlein litt nicht Not / Ging recht ab wie warmes Brot, / ging von Hand zu Hande" lebhaft reagierte (wie etwa in der Videoaufnahme eines Auftritts in der Akademie der Künste der DDR dokumentiert ist). Nach dem Fall der Mauer wurde das Lied auch von Jochen Wiegandt und Erich Schmeckenbecher (1990), Thomas Friz (1996) und der Deutschen Gildenschaft (1997) auf Tonträger eingespielt – stets nach der bekannten Vertonung des Goethe-Gedichts von Heinrich Werner. Den bisherigen Höhepunkt der noch jungen Traditionsstiftung bildet die Aufnahme der "Leipziger Folksession Band", die 1998 zum 150. Jubiläum der 1848er-Revolution erschienen ist.

DAVID ROBB
ECKHARD JOHN
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(Mai 2010)



Weiterführende Literatur
  • Walter Moßmann, Peter Schleuning: Alte und neue politische Lieder. Entstehung und Gebrauch, Texte und Noten. Hamburg 1978 (Zitat S. 16).
  • Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Erste Abteilung, Band 12: Freiheits-Büchlein; Levana; Ergänzblatt zur Levana. Weimar 1937 (zum "Freiheits-Büchlein" s. Einleitung von Eduard Berend S. V–XIV).
  • M. G. Rosenbacher: Die Untersuchung wegen der "Lieder eines Hanseaten" (1843); in: Mitteilungen des Vereins für Hamburgische Geschichte 38 (1918), S. 171―176.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: keine Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: selten in Gebrauchsliederbüchern (nach 1980)
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: selten auf Tonträgern (s. Diskographie)
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
David Robb, Eckhard John: Sah ein Fürst ein Büchlein stehn (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/sah_ein_fuerst_ein_buechlein_stehn/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 12.09.2012 11:54
 

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