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A. Mein Deutschland strecke die Glieder

(Georg Herwegh 1849)


Text: Georg Herwegh (1817–1875)
 


1. Mein Deutschland strecke die Glieder
Ins alte Bett so warm und weich;
Die Augen fallen Dir nieder,
Du schläfriges deutsches Reich.
 
2. Hast lange geschrieen dich heißer –
Nun schenke Dir Gott die ewige Ruh!
Dich spitzt ein deutscher Kaiser
Pyramidalisch zu.
 
3. O Freiheit die wir meinen,
O deutscher Kaiser, sei gegrüßt!
Wir haben auch nicht Einen
Zaunkönig eingebüßt.
 
4. Sie sind uns Alle verblieben;
Und als wir nach dem Sturm gezählt
Die Häupter unserer Lieben,
Kein einziges hat gefehlt.
 
5. Deutschland nimmt nur die Hüte
Den Königen ab, das genügt ihm schon;
Der Deutsche macht in Güte
Die Revolution.
 
6. Die Professoren reißen
Uns weder Thron noch Altar ein;
Auch ist der Stein der Weisen
Kein deutscher Pflasterstein.
 
7. Wir haben was wir brauchen;
Gesegnet sei der Völkerlenz!
Wir dürfen auch ferner rauchen
In unserer Residenz.
 
8. Wir haben Wrangels Säbel,
Berlin und seinen Wolkensteg;
Das Maulthier sucht im Nebel
Noch immer seinen Weg.
 
9. Wie freu'n sich die Eunuchen!
Die bilden jetzo den ersten Stand;
Der Welker frißt die Kuchen
Den Königen aus der Hand.
 
10. Du hältst Dir einen Gesandten,
Deutschland im stillen Ocean,
Und fühlest den Elephanten
In Indien auf den Zahn.
 
11. Die Fragen sind erledigt,
Die Pfaffen machen bim bam bum;
Den Armen wird gepredigt
Das Evangelium.
 
12. Wir bauen dem lieben Gotte
Den hohen Dom zu Cöllen aus,
Und geben eine Flotte
Auf Subscription heraus.
 
13. Die schwarz-roth-goldenen Wimpel
Besorgt der Jakob Venedey,
Zum Wappen nimmt er den Gimpel,
Sein eigenes Conterfey.
 
14. Fünfhundert Narrenschellen
Zu Frankfurt spielen die Melodie:
Das Schiff streicht durch die Wellen
Der deutschen Phantasie.


Freiheit, Arbeit. [Organ des Kölner Arbeitervereins.] Köln: Verlag J. A. Brocker-Everaerts 1 (1849), Nr. 13 (25. Februar 1849), S. (54).
DVA: B 50355

Dort folgende Angabe zur Entstehung des Gedichtes: "Dezember 1848. G. Herwegh."


Editorische Anmerkung:
Die erste Ausgabe der Zeitschrift "Freiheit, Arbeit" war am 14. Januar 1849 in Köln herausgebracht worden. Herweghs Gedicht erschien mit der Anmerkung: "Aus einer größeren Reihe von Gedichten, von denen wir mehrere mittheilen werden."
Str. 11, Vers 2: der Druckfehler in der Editionsvorlage ("Dir Pfaffen") wurde stillschweigend korrigiert: in allen anderen frühen Drucken lautet die Stelle "die Pfaffen".
Herweghs Gedicht erschien 1849 außerdem in:
  • Deutsche Londoner Zeitung. Blätter für Politik, Literatur und Kunst 5 (1949), Nr. 207 (16. März 1849), Beilage zur Deutschen Londoner Zeitung Nr. 206 [sic]: "Ein Lied von Herwegh".
  • Neue Fränkische Zeitung 1849, Nr. 83 (24. März 1849), dazu: Fränkisches Conversationsblatt. Beiblatt zur Neuen fränkischen Zeitung, Nr. 24 (25. [sic] März 1849): "Ein Lied von Herwegh".

Einen späteren Druck des Gedichtes enthält:
  • Georg Herwegh: Neue Gedichte. Herausgegeben nach seinem Tode. Zürich 1877, S. 33–35.
Hier erschien das Gedicht erstmals um eine Strophe gekürzt mit nunmehr 13 Strophen. Weggefallen war die ursprünglich 13. Strophe (über Jakob Venedey): Offenbar war sie den Zeitgenossen schon in den 1870er Jahren nicht mehr vermittelbar.
Diese verkürzte Version wurde auch in den folgenden Ausgaben beibehalten:
  • Herweghs Werke. Dritter Teil. Neue Gedichte. Hrsg. Hermann Tardel. Berlin etc. [1909], S. 35–37.
  • Elfriede Underberg: Die Dichtung der ersten deutschen Revolution 1848–1849. Leipzig 1930, S. 192–194.
  • Bruno Kaiser: Die Achtundvierziger. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Weimar 1952, S. 154f.

Eine in anderer Hinsicht veränderte Fassung enthielt
  • Christian Petzet: Die Blütezeit der deutschen politischen Lyrik von 1840 bis 1850. Ein Beitrag zur deutschen Literatur- und Nationalgeschichte. München 1903, S. 161.
Hier erschien der Text mit einer (neuen) Überschrift: "Deutschland zum Neujahr 1849" und in sieben (statt 14) Strophen: Dabei wurden jeweils zwei bisher vierzeilige Strophen zu einer nunmehr achtzeiligen Strophe zusammengeführt. Die Quelle von Petzet ist nicht bekannt; sie stammt aber offenkundig aus den Jahren um 1849, denn seine Version enthält noch die Venedey-Strophe. Ob die neue Gedicht-Überschrift und die Veränderung in achtzeilige Strophen ein Bearbeitung von Petzet ist oder ob ihm noch andere zeitgenössische Quellen für dieses Gedicht vorlagen, muss einstweilen offen bleiben.
Auch die Version von Petzet wurde in späteren Nachdrucken übernommen, etwa von
  • Karl Riha: Herwegh "Deutschland zum Neujahr 1849". In: Helmut Hartwig, Karl Riha: Politische Ästhetik und Öffentlichkeit. 1848 im Spaltungsprozeß des historischen Bewusstseins. Fernwald 1974, S. 186f.
  • Ulrich Otto: Die historisch-politischen Lieder und Karikaturen des Vormärz und der Revolution von 1848/1849. Köln 1982, S. 486f.
Riha gibt als Referenz für seinen Abdruck die Herwegh-Ausgabe von Hermann Tardel (1909) an; tatsächlich übernimmt er das Gedicht jedoch nach der Vorlage von Petzet (1903): mit "Neujahrs"-Überschrift und sieben 8-zeiligen Strophen.
Ulrich Otto verfährt ähnlich: als Referenz gibt er ebenfalls Tardels Werkausgabe an, tatsächlich aber druckt auch er die dort nicht enthaltene "Neujahrs"-Überschrift sowie die Venedey-Strophe aus Petzet nach. Otto kombiniert diese Textfassung zudem mit der – seit den ausgehenden 1960er Jahren verwendeten – Zelter-Melodie (s. Edition B) und suggeriert damit, dass der Text schon zu Herweghs Zeiten als Lied existiert habe.

Texterläuterungen:
Str. 1: "Mein Deutschland, strecke die Glieder […] du schläfriges deutsches Reich": Herwegh nimmt das Bild des Schlafes wieder auf, das er bereits 1843 in seinem "Wiegenlied" („Deutschland – auf weichem Pfühle / Mach dir den Kopf nicht schwer“) als politische Metapher pointiert verwendet hatte; siehe Georg Herwegh: Gedichte eines Lebendigen. Zweiter Teil. Zürich 1843, S. 88f., sowie Georg Herwegh: Gedichte 1835–1848. (Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Band 1). Bearb. von Volker Giel. Bielefeld 2006 (zum "Wiegenlied" S. 130f. und 553–558).
Str. 2: "Dich spitzt ein deutscher Kaiser / pyramidalisch zu": Anspielung auf die Installierung einer konstitutionellen Monarchie mit einem (preußischen) Erbkaiser an der Spitze, wie sie von nationalliberaler Seite in der Frankfurter Nationalversammlung für die erste Verfassung des deutschen Reiches (Paulskirchenverfassung) angestrebt wurde.
Str. 3: "O Freiheit die wir meinen": ironische Anspielung auf das damals prominente Lied "Freiheit, die ich meine".
– "Zaunkönig": ironisches Wortspiel hinsichtlich des durch Kleinstaaterei geprägten Deutschen Bundes. Er hatte 39 Mitgliedstaaten, darunter etliche Duodezfürstentümer.
Str. 4: satirisches Zitat aus Friedrich Schillers "Lied von der Glocke" (Vers 225f.: "Er zählt die Häupter seiner Lieben, / Und sieh! ihm fehlt kein teures Haupt.")
Str. 5: "Deutschland nimmt nur die Hüte / Den Königen ab": Anspielung auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV., der vor den Märzgefallenen 1848 im Berliner Schlosshof den Hut zog.
Str. 6: "Die Professoren": gemeint sind die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung. Herwegh verwendete die – damals geläufige – Rede vom "Professorenparlament" der Paulskirche bereits in seinem im Juni 1848 verfassten Gedicht "Zu Frankfurt an dem Main" (Str. 4).
– "der Stein der Weisen": auch dieses Bild rekurriert auf Herweghs Parlamentarierschelte "Zu Frankfurt an dem Main" (Str. 1).
Str. 7: "Wir dürfen auch ferner rauchen / in unsrer Residenz." Anspielung auf das preußische Rauchverbot auf den Strassen, das nach der Märzrevolution 1848 als Zugeständnis an die Revolutionäre aufgehoben wurde.
Str. 8: "Wrangels Säbel": Anspielung auf General Friedrich von Wrangel (1784–1877), der Anfang November 1848 die militärische Besetzung Berlins anführte und dort gegen die Revolutionäre das Kriegsrecht verhängte.
– "Berlin und seinen Wolkensteg; / Das Maulthier sucht im Nebel / Noch immer seinen Weg." politische Persiflage auf Goethes "Mignon" ("Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn"), dort heißt es in der dritten Strophe: "Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg".
Str. 9: "Der Welker frißt die Kuchen / Den Königen aus der Hand": der Rechtswissenschaftler Carl Theodor Welcker (1790–1869) war ein prominenter Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung und gehörte dem Verfassungsausschuss an.
Str. 12: "den hohen Dom zu Cöllen": im August 1848 hatte die 600-Jahrfeier der Grundsteinlegung des Kölner Doms stattgefunden. Seit 1842 hatte man – nach einer über 300-jährigem Unterbrechung in der Baugeschichte – die Fertigstellung des Doms wieder aufgenommen.
– "Flotte auf Subsciption": Im Juni 1848 hatte die Nationalversammlung den Aufbau einer Flotte beschlossen. Zur Thematik einer deutschen Marine hatte Herwegh bereits 1841 ein Gedicht ("Die deutsche Flotte") verfasst und als Flugschrift veröffentlicht. Er gilt als einer der ersten Literaten, die im Sinne der nationalen Einheitsidee den Flottengedanken thematisierten, und löste mit seinem Gedicht eine ganze Welle patriotischer "Flottengedichte" aus; siehe Georg Herwegh: Gedichte 1835–1848. (Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Band 1). Bearb. von Volker Giel. Bielefeld 2006, S. 104–107 und S. 476–485.
Str. 13: Jakob Venedey (1805–1871) war Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. Er hatte in den 1830er Jahren im Pariser Exil gelebt und dort den "Bund der Geächteten" geleitet. In der Paulskirche zählte Venedey zu den Fraktionen Deutscher Hof und Westendhall. Letztere – von linker Seite als "Linke im Frack" bespöttelt – unterstützte die Reichsverfassung.
Str. 14: "Fünfhundert Narrenschellen / Zu Frankfurt": die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung (siehe oben, Str. 6).
– "Das Schiff streicht durch die Wellen": ein seit den 1830er Jahren sehr bekanntes Lied; siehe Franz Magnus Böhme: Volksthümliche Lieder der Deutschen. Leipzig 1895, S. 544–547 (Nr. 718). Der Liedtext enthält Aussagen, die sich auch auf Herweghs Position als Schriftsteller im Exil übertragen lassen. Heißt es in der ersten Strophen bereits "O wie gerne wär' ich noch im Heimatland!" so lauten die vierte und sechste Strophe:

Mag ich auf  Wellen schwanken,
sind immer die Gedanken,
bei dir im Heimatland;
was ich singe, das erklinge
bis hinüber an den Strand,
Rosabella Fidelin!

Was ich jetzt fern muß singen,
bald soll dir's näher klingen,
mein' Fahrt ist bald vorbei.
Meine Lieder bring' ich wieder
und mit ihnen meine Treu',
Rosabella Fidelin!
 
last modified 31.01.2013 05:13
 

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