Skip to content. Skip to navigation

Liederlexikon

Personal tools
You are here: Home Lieder Immer langsam voran
Document Actions

Immer langsam voran


Das Scherzlied "Immer langsam voran" malt die Erlebnisse einer an den Befreiungskriegen beteiligten, gänzlich unheroischen militärischen Einheit auf belustigende Weise aus. Es war in der Zeit des Vormärz äußerst populär und diente als Vorlage politischer Parodien, brachte doch die bald schon sprichwörtliche Redensart "Immer langsam voran" eine Haltung auf den Punkt, gegen die die liberale "Partei der Bewegung" opponierte.

I. Das unter dem Eindruck der Befreiungskriege entstandene Scherzlied "Immer langsam voran" verklärt die Ereignisse der Jahre 1813/14 nicht zur Heldengeschichte, sondern erzählt sie als militärische Posse. Handlungsfiguren sind Angehörige einer Einheit der Landwehr. Als solche bezeichnete man die damals ausgehobenen Volksmilizen, die neben regulären Truppen und Freiwilligenverbänden verschiedentlich zum Einsatz kamen. Zwei Überlieferungsstränge gibt es hinsichtlich der Herkunft der Liedprotagonisten (wobei unklar ist, welche Version die ursprüngliche ist): Besungen werden die Erlebnisse entweder der österreichischen (Edition B) oder der "Krähwinkler" Landwehr (Edition A und Edition C). In der letztgenannten Form ist das Lied den seinerzeit zahlreichen Krähwinkliaden zuzurechnen, die in August von Kotzebues Theaterstück "Die deutschen Kleinstädter" (1802) ihren Ausgangspunkt hatten. Die provinzielle Beschränktheit und kleinbürgerliche Weltsicht der Bewohner des fiktiven Orts Krähwinkel bildeten in der Folge einen Stoff für satirische Zeitporträts.

II. Der oder die Urheber des Liedes "Immer langsam voran" sowie der genaue Zeitpunkt seiner Entstehung sind nicht bekannt. Verbreitung fand es anfänglich durch mündliche Tradierung, aber auch durch Liedflugschriften (Edition A). Erst in den 1840er Jahren wurde es dann in Gebrauchsliederbücher aufgenommen (z. B. Edition B und Edition C). Die entsprechenden Belege weisen eine große Textvarianz auf. Aufgrund der Quellenlage lassen sich weder die Ausgangsfassung des Liedes noch die Chronologie seiner Veränderungen (etwa durch Zusatzstrophen) rekonstruieren. Auf die Befreiungskriege nehmen die Texte durch die Nennung einzelner Schlachten teilweise sehr konkret Bezug: Erwähnt werden die Schlacht bei Lützen (2. Mai 1813; Edition C, Str. 12), bei Bautzen (20./21. Mai 1813; Edition A, Str. 7; Edition B, Str. 9), Dresden (26./27. August 1813, Edition B, Str. 6), Leipzig (16.–19. Oktober 1813, Edition B, Str. 10; Edition C, Str. 14) oder Châlons-sur-Marne (4. Februar 1814; Edition B, Str. 6). Die Landwehreinheit des Liedes kämpft freilich nicht tapfer an vorderster Front mit, sondern präsentiert sich als lahme Truppe, die nur dann schnell wird, wenn es gilt, die eigene Haut zu retten ("Reißt aus, reißt aus, reißt Alle aus! / Dort steht ein französisches Schilderhaus. // Und kommt der Feind doch angeruckt, / dann Alle flink in's Kartoffelfeld geduckt"; Edition C, Str. 22 u. 23). Auch die militärischen Vorgesetzten zeichnen sich nicht gerade durch Mut aus ("Unser Hauptmann ist vom Federsee, / Wenn sie schießen da kriegt er die Diarrhöe"; Edition B, Str. 14). Entsprechend dürftig sind die Erfolge, für die man sich brüstet ("Bei Leipzig in der Völkerschlacht, / da hab'n wir einen Todten zum Gefang'nen gemacht"; Edition C, Str. 14). Stärker als die militärische Lage beschäftigt die Landwehr-Männer das Thema Essen (Abb. 1). Die Popularität des Liedes "Immer langsam voran" beruhte auf seinen Antihelden, die je nach Blickwinkel als Witzfiguren oder subversive Gegenbilder eines Heroentyps erscheinen, wie ihn die Lyrik der Befreiungskriege gemeinhin postulierte.

III. Ein Indiz für die Beliebtheit des Liedes "Immer langsam voran" nach den Befreiungskriegen ist, dass sein Kehrvers zum geflügelten Wort wurde (Büchmann 1993). Heinrich Heine etwa charakterisierte in "Die Harzreise" (veröffentlicht 1826 im ersten Teil der "Reisebilder") seinen Abstieg vom Brocken in Begleitung einiger Studenten aus Halle wie folgt: "Das ging Hals über Kopf. Hallesche Studenten marschieren schneller als die österreichische Landwehr." Ungehalten über die zögerliche Haltung gegenüber einem eingereichten Artikel aus seiner Feder schrieb Karl Gutzkow 1839 dem Herausgeber der betreffenden Zeitschrift: "Sie marschieren wie die Oesterreichische Landwehr, "immer langsam voran"" (zit. Ute Promies 2001). Und Wilhelm Grimm meinte 1842 nach einer Krankheit in einem Brief: "ich hoffe daß die bewegung und der genuß der luft die herstellung meiner kräfte beschleunigt. bisher hieß es, wie in dem östreich. volkslied von der landwehr "immer langsam voran" und auf meine füße war die andere strophe anwendbar, "unser rittmeister ist ein braver mann, schade nur, daß er nicht reiten kann.""

IV. Die große Popularität des Liedes "Immer langsam voran" im Vormärz lässt sich auch an einer Reihe politischer Parodien ablesen. Für die liberal gesinnten Zeitgenossen, die sich als "Partei der Bewegung" verstanden, traf das Motto "Immer langsam voran" die politischen Zustände in Deutschland auf den Punkt. Verfasst haben solche Parodien z. B. Ernst Ortlepp ("Landtagslied" mit Refrain "Immer langsam voran, immer langsam voran, / Damit der Landtag nicht fertig werden kann"; in: Lieder eines politischen Tagwächters, 1843), Hoffmann von Fallersleben ("Der historische Fortschritt" mit Refrain "Immer langsam voran, immer langsam voran! / Daß die deutsche Nation auch nachfolgen kann"; in: Maitrank, 1844) und Adolf Glaßbrenner ("Der deutsche Michel beim Fortschritt", 1845; s. Edition D). Glaßbrenner ironisierte insbesondere die krähwinkelhaften Züge der Zeitverhältnisse ("Heut sorg' ich nicht für's Völkerwohl, / Sonst wird mir kalt mein Sauerkohl"). Auch im Revolutionsjahr 1848 wurde das Lied "Immer langsam voran" verschiedentlich parodiert. Während das als Flugschrift erschienene "Berliner Revolutions ABC" eines gewissen Dr. Bach den anfänglichen Optimismus widerspiegelt, dass eine politisch neue Zeit begonnen habe (Edition E), ist Glaßbrenners "Neuer Gesang des deutschen Michels" (Edition F) aus dem Herbst des gleichen Jahres eine Reaktion auf bereits gescheiterte Hoffnungen ("Immer'n Bisken zurück, immer'n Bisken zurück / Zu des alte Unterthanenjlück!").

V. Das Lied von der österreichischen bzw. Krähwinkler Landwehr findet sich auch im Zeitraum zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg relativ häufig in Liederbüchern (Edition H), danach werden die Rezeptionsbelege selten. Eine Strophe von "Immer langsam voran" ("Was geht denn da im Busch herum, / das ist gewiß der Napoleum!"; Edition C, Str. 20) bildete die Keimzelle des 1870 zu Beginn des deutsch-französischen Krieges geschriebenen "Kutschkeliedes". Das Landwehr-Lied bildete auch die Vorlage des wohl ebenfalls in diesem Krieg entstandenen Liedes "Zu Siebzig, da zogen die Lippischen Schützen", das quellenmäßig jedoch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts greifbar ist. 1905 verfasste Erich Mühsam zur Melodie von "Immer langsam voran" einen "Gesang der Vegetarier", mit dem er die diätetischen Lebensregeln der damals neuen Lebensreformbewegung ironisierte (Edition G). Noch in den 1950er Jahren wurde aus Kindermund ein Reim aufgezeichnet, der auf das Landwehr-Lied der Befreiungskriege zurückgeht (Edition I).

TOBIAS WIDMAIER
(Oktober 2009)



Editionen und Referenzwerke
Weiterführende Literatur
  • Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Gustav Hugo. Hrsg. von Stephan Bialas. Stuttgart 2003 (Zitat S. 315).
  • Ute Promies: Probleme einer Gutzkow-Briefedition. In: Briefkultur im Vormärz. Hrsg. von Bernd Füllner. Bielefeld 2001, S. 195–218 (Zitat S. 199).
  • Wolfgang Etschmann: Das Allgemeine Aufgebot und die Landwehr (1796–1815). In: Österreich in Geschichte und Literatur 40 (1996), S. 242–248.
  • Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz. Gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. 39. Auflage. Neu bearbeitet von Winfried Hofmann. Frankfurt a. M., Berlin 1993, S. 78.
  • Heinrich Heine: Reisebilder. In Sämtliche Schriften, Bd. 3. Hrsg. von Günter Häntzschel. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1981 (Zitat S. 157).


Quellenübersicht
  • etliche Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: vereinzelt auf Flugschriften, sehr häufig in Gebrauchsliederbüchern (selten jedoch nach 1930), etliche sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: selten auf Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Tobias Widmaier: Immer langsam voran (2009). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/immer_langsam_voran/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 16.10.2012 10:23
 

nach oben | Impressum