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Ihr Brüder, wollt ihr ziehen fort


Das Auswanderungslied "Ihr Brüder, wollt ihr ziehen fort", das zur Abwanderung bessarabiendeutscher Siedler in die Kaukasusregion aufruft, entstand wahrscheinlich um 1860 im damals zu Russland gehörenden Bessarabien. Verfasst wurde es von dort ansässigen deutschstämmigen Kolonisten. Verbreitet war dieses Lied vor allem unter Bessarabiendeutschen und wurde von ihnen auch in neue Siedlungsgebiete mitgenommen. Die letzten bislang bekannten Belege stammen aus den 1950er Jahren.

I. "Ihr Brüder, wollt ihr ziehen fort" wurde vermutlich in den 1860er Jahren von einem anonym gebliebenen bessarabiendeutschen Autor gedichtet. Anlass war offenbar die damals in Bessarabien einsetzende Migrationswelle deutscher Siedler in östliche Gebiete des russischen Reiches. Erstmals belegt ist dieses Lied jedoch erst Jahrzehnte später: im Jahr 1928 kopierte die Germanistin Ellinor Johannson den Liedtext aus dem handschriftlichen Liederheft eines russlanddeutschen Siedlers auf der Halbinsel Krim (Edition A). Weitere Aufzeichnungen aus den 1950er und 1960er Jahren umfassen auch zwei Melodien, auf die dieses Lied gesungen wurde (Edition B und Edition C)

II. "Ihr Brüder, wollt ihr ziehen fort" handelt von dem Wunsch, Bessarabien zu verlassen und stattdessen in die Kaukasusregion zu ziehen: eine Gegend, die als freundlich und fruchtbar beschrieben wird, als ein Ort, an dem es leicht fällt, das tägliche Brot zu erwirtschaften. Das Klima sei dort mild, die Natur zeige sich großzügig und verwöhne mit süßen Früchten und anderem Reichtum. Wie viele Auswandererlieder spielt auch dieses mit dem Bild eines irdischen Paradieses, in dem es Nahrung in Fülle gibt und keine harte Arbeit zu leisten ist, bleibt in seinen Schilderungen aber vergleichsweise realistisch: das Land "Kaukasia" ist "zu loben", dort "an den Bergen [...] wachsen Feigenbäum" und zuckersüße Rosinen, nur "oben auf den Bergen wird es auch manchmal kalt". Zu Hause dagegen fallen schon die ersten Schneeflocken und das einzige Hindernis auf dem Weg in den Kaukasus ist der Mangel an Geld.

III. "Ihr Brüder, wollt ihr ziehen fort" war in deutschen Siedlungen Südrusslands und der Dobrudscha (bis 1878 Osmanisches Reich, danach Rumänien bzw. Bulgarien) verbreitet. Die ursprüngliche Textfassung des Liedes ist nicht bekannt. Es lässt sich also schwer beurteilen, wie nah am Ursprungstext die erste Aufzeichnung von 1928 ist (Edition A). Insgesamt wirkt dieser Text jedenfalls schlüssig und enthält auch keine sinnentstellenden Textumbildungen. Auf die Halbinsel Krim gelangte er wahrscheinlich mit den bessarabiendeutschen Siedlern, die dort Tochterkolonien gründeten. Auch in die Dobrudscha wurde dieses Lied von Umsiedlern aus Bessarabien mitgenommen. Die dobrudschadeutschen Aufzeichnungen aus den 1950er Jahren sind deutlich fragmentarischer (3 bzw. 4 der Strophen des Erstbelegs fehlen), enthalten jedoch wiederum eine Strophe, die in der Krimer Variante nicht enthalten ist: "Borg du mir hundert Rubel [bzw. Taler], daß ich auch ziehen kann, und meine Frau und Kinder auch mit mir nehmen kann" (Edition B).

IV. Eine bemerkenswerte Umdichtung, die um 1940 entstanden sein muss, ist außerdem aus Bessarabien überliefert: hier geht es nicht nach "Kaukasia", sondern, mit einer Zwischenstation in Serbien, nach Deutschland (Edition C). Dieser Text wurde offenbar im Vorfeld der gigantomanischen Umsiedlungsaktion, welche die Nationalsozialisten unter dem Motto "Heim ins Reich" initiiert hatten, verfasst: deutsche Siedlungen im Osten Europas wurden aufgelöst, die ehemaligen Kolonisten innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs neu angesiedelt – nachdem zuvor andere Menschen von dort vertrieben wurden. Die Bessarabiendeutschen brachen 1940 auf, wurden zunächst über die Donau nach Serbien gebracht und warteten dort auf die Zuweisung ihres künftigen Siedlungsgebietes. "Kommt, Brüder, lasst uns ziehgen getrost nach Serbien" antizipiert diese Reise und zeichnet ein hoffnungsvolles Bild von der Ankunft in Deutschland. Auch in dieser Fassung erscheint das Motiv des gelobten Landes, in dem "alles wächst und bl[ü]ht". Das Leben ist sorgenfrei, man kennt keine Arbeit, wohnt im schönsten Zimmer und wird zudem von einem warmherzigen "Fürst[en]" freundlich empfangen werden. Diese Liedvariante wurde 1962 aufgezeichnet.

INGRID BERTLEFF
(Dezember 2010)



Weiterführende Literatur
  • Detlef Brandes: Einwanderung und Entwicklung der Kolonien. Auf der Suche nach Land: Tochterkolonien in Rußland und Auswanderung nach Amerika. In: Gerd Stricker (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Berlin: Siedler 1997, S. 91–96 (zur Auswanderung Bessarabiendeutscher auf die Krim und in die Kaukasusregion).
  • Marina Achenbach: Heim ins Reich. In: Der Freitag, Online-Ausgabe, 15.04.2005, URL: <http://www.freitag.de/politik/0515-deutschland-entglitt> (10.2.2010)


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: wenige Belege aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: wenige gedruckte Quellen
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: wenige Tonaufzeichnungen
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Ihr Brüder, wollt ihr ziehen fort (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/ihr_brueder_wollt_ihr_ziehen_fort/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 12.09.2012 12:04
 

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