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Hört Menschen eine Schreckenskunde


Die Moritat "Hört Menschen eine Schreckenskunde" handelt von einem Raubmord in einer russlanddeutschen Siedlung in der Ukraine. Entstanden ist das Lied zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Es war lediglich regional verbreitet und wurde wahrscheinlich vor allem von Zeugen des Ereignisses rezipiert.

I. Gegenstand der Moritat ist der Raubmord an einer Pastorenfamilie in der russlanddeutschen Siedlung Prischib (Molotschnaja-Gebiet, Ukraine): 1904 wurde der evangelische Pfarrer des Ortes, Pastor Baumann, seine Frau sowie seine jüngste Tochter des Nachts überfallen und umgebracht. "Hört Menschen eine Schreckenskunde" wurde vermutlich unmittelbar nach der Tat gedichtet. In welcher Form es danach verbreitet wurde ist nicht bekannt. Das Lied ist um 1927 in insgesamt sechs verschiedenen Textvarianten aufgezeichnet worden. Die einzelnen Fassungen sind weitgehend identisch und weichen nur in unbedeutenden Details voneinander ab.

II. "Hört Menschen eine Schreckenskunde" beginnt mit einem für Moritaten typischen Eingangsvers. In den folgenden Strophen wird neben der Schaurigkeit der Tat und dem allgemeinen Entsetzen darüber auch deutlich der Trauer um den offenbar geschätzten Pfarrer Ausdruck verliehen (Edition A). In der sechsten Strophe des Liedes ist von weiteren Kindern des Pastorenpaares und ihrer Erschütterung über das Geschehene die Rede. Über eine Tochter Baumanns, Margarethe Tavonius, sind einige wenige Informationen erhalten. Sie war damals mit dem Arzt und Krankenhausleiter Erich Tavonius in einem der Nachbarorte Prischibs verheiratet. Einem historischen Bericht zufolge war das Ehepaar Tavonius derart schockiert, dass es die Gegend zunächst ganz verlassen hat. Margarethe konnte sich zeitlebens offenbar nie mehr vollständig von dem Trauma erholen (Huebert 1999). Das Verbrechen hat die Menschen in der Prischiber Gegend damals stark bewegt und wurde noch in einem weiteren Lied verarbeitet (s. "Von einer Mordsgeschichte hört").

III. Die Ähnlichkeit der Textvarianten ist frappierend. Möglicherweise liegt ihnen ursprünglich eine schriftliche Fassung zugrunde. Denkbar ist, dass das Lied anlässlich des Begräbnisses der getöteten Pastorenfamilie verfasst wurde und dass man zu diesem Anlass handschriftliche Kopien des Textes angefertigt hat. Gesungen wurde die Moritat auf die in der Molotschnaja geläufige Melodie des geistlichen Vertrauensliedes "Wer nur den lieben Gott lässt walten". Diese Kontrafaktur ist möglicherweise dem Kontext geschuldet: dem Mord an einer Pastorenfamilie.

IV. Alle bislang bekannten Liedbelege stammen aus dem Prischiber Siedlungsgebiet (einer Ansammlung russlanddeutscher "Kolonien" entlang des Flusses Molotschna im Südosten der Ukraine) und aus russlanddeutschen Kolonien der etwas weiteren Umgebung, zu denen Kontakte bestanden haben. So ist das Lied auch auf die etwas weiter südwestlich gelegene Halbinsel Krim (wo wohlhabende Bürger der Molotschnaja-Kolonien Ländereien besaßen) und in Orte des unmittelbar nördlich angrenzenden Verwaltungsbezirks (wo mehrere Tochterkolonien von Siedlern des Prischiber Kolonie-Komplexes gegründet wurden) gelangt. Die Moritat wurde offenbar in erster Linie von Zeitgenossen rezipiert und war in ihrer regionalen Verbreitung wohl weitgehend auf die Molotschnaja-Kolonien begrenzt. Punktuell ist das Lied jedoch auch noch längerfristig im Gedächtnis geblieben und wurde beispielsweise noch 1971 in Bremen von russlanddeutschen Einwanderern aus dem Donetzgebiet aufgenommen (Edition B).

INGRID BERTLEFF
(Februar 2010)



Weiterführende Literatur
  • Helmut T. Huebert: Events and people. Events in Russian Mennonite history and the people that made them happen. Winnipeg: Springfield 1999, S. 137 f.
  • Viktor Schirmunski: Das kolonistische Lied in Rußland. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 37/38 (1927/28), S. 182–215 (s. dort S. 188 f.).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: wenige Belege aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: —
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Hört Menschen eine Schreckenskunde (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/hoert_menschen_eine_schreckenskunde/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 12.09.2012 11:59
 

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